Gedenkfeier für Opfer der Neonazis Merkel bittet um Verzeihung
23.02.2012, 12:31 Uhr
Zehn Kerzen für die Opfer der Neonazi-Mordserie, eine weitere für alle Opfer rechtsradikaler Anschläge. Die zwölfte Kerze steht für die Hoffnung.
(Foto: dpa)
Über Jahre gingen die Ermittler davon aus, dass die Mordserie an den meist türkischstämmigen Gewerbetreibenden einen familiären oder Mafia-Hintergrund haben. Dafür entschuldigt sich Bundeskanzlerin Merkel bei den Familien der Opfer: "Wie schlimm muss es sein, über Jahre falschen Verdächtigungen ausgesetzt zu sein, statt trauern zu können."
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Hinterbliebenen der Opfer der jahrelang unentdeckt gebliebenen Neonazi-Zelle um Entschuldigung gebeten. Die Hintergründe der Mordserie seien "viel zu lange im Dunkeln" geblieben, "das ist die bittere Wahrheit", sagte Merkel in ihrer Rede bei der offiziellen Gedenkfeier für die Opfer der Mordserie.
Einige der Opfer hätten selbst über Jahre unter Verdacht gestanden, sagte Merkel im Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt. Dies sei besonders beklemmend, "und dafür bitte ich Sie um Verzeihung".
Zu einem Video der Rechtsextremisten, in dem diese die ermordeten Menschen verhöhnten und dabei Elemente der Zeichentrickserie "Paulchen Panther" verwendeten, sagte Merkel, etwas Menschenverachtenderes, Perfideres und Infameres habe sie in ihrer Arbeit noch nicht gesehen.
"Eine Schande für unser Land"
Die Kanzlerin rief die Gesellschaft auf, gegen jede Form von Intoleranz und Ausgrenzung einzutreten. "Die Morde der Thüringer Terrorzelle waren auch ein Anschlag auf das Land. Sie sind eine Schande für unser Land."
"Wie schlimm muss es sein, über Jahre falschen Verdächtigungen ausgesetzt zu sein, statt trauern zu können", sagte Merkel vor rund 1200 Gästen, den Angehörigen der Opfer und sämtlichen Spitzenvertretern des deutschen Staates. "Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären, die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken, alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen."
Die Kanzlerin nannte die Namen der neun getöteten Migranten sowie der in Heilbronn erschossenen Polizistin und beschrieb ihre familiäre und berufliche Situation. "Wir ehren die Opfer dieser Terrorgruppe und wir erinnern gleichzeitig auch an die Opfer weiterer schrecklicher Taten", sagte sie mit Blick auf zwei Sprengstoffanschläge mit Verletzten in Köln, die der Zelle ebenfalls zur Last gelegt werden.
Dank an Wulff
Viele der Opfer hätten äußerliche Wunden davongetragen, sagte Merkel. Wie sehr ihre seelischen Verletzungen schmerzten, "das können wir nur ahnen". "Wir vergessen zu schnell, viel zu schnell", mahnte die Kanzlerin. Gleichgültigkeit habe "eine schleichende, aber verheerende Wirkung".
Nach Merkel sprachen auch Hinterbliebene der Mordopfer. Der Vater des 2006 in Baunatal bei Kassel ermordeten Halit Yozgat schilderte, wie sein Sohn in seinen Armen starb. Er dankte Merkel für ihre Rede und dem am vorigen Freitag zurückgetretenen Bundespräsidenten Christian Wulff dafür, dass er diese Veranstaltung möglich gemacht habe. "Wir sind seine Gäste. Wir bewundern ihn", sagte Ismail Yozgat. Wulff hatte im November Angehörige der Mordopfer im Schloss Bellevue empfangen und daraufhin die Gedenkfeier initiiert.
Beistand statt Geld
Ismail Yozgat dankte in seiner Rede für das Angebot finanzieller Unterstützung, betonte aber, Geld wolle seine Familie nicht annehmen. Sie bitte um seelischen Beistand. Statt materieller Entschädigung habe er drei Wünsche. "Unser erster Wunsch ist, dass die Mörder gefasst werden." Auch die Hintermänner müssten aufgedeckt werden. Das Vertrauen seiner Familie in die deutsche Justiz sei groß.
Der zweite Wunsch sei, dass die Holländische Straße, in der sein Sohn in Baunatal geboren wurde und dort in seinem Internetcafé starb, nach ihm benannt werde. Als dritten Wunsch äußerte Yozgat, dass im Gedenken an die insgesamt zehn ermordeten Menschen ein Preis ausgelobt und eine Stiftung gegründet werde. Sämtliche Einnahmen und Spenden sollten krebskranke Menschen bekommen.
"In unserem Land, in meinem Land"
Semiya Simsek, die Tochter des ersten Opfers, des Blumenhändlers Enver Simsek, wies in ihrer Rede darauf hin, dass die Familien der Opfer selbst in Verdacht gerieten. "Können Sie erahnen, wie es sich für meine Mutter angefühlt hat, plötzlich selbst ins Visier der Ermittler zu geraten?"
"Mein Vater wurde von Neonazis ermordet", sagte Simsek weiter. "Soll mich diese Erkenntnis nun beruhigen? Das Gegenteil ist der Fall." Sie forderte: "In unserem Land, in meinem Land, muss sich jeder frei entfalten können ... Lasst uns nicht die Augen verschließen und so tun, als hätten wir dieses Ziel schon erreicht."
Zehn Morde zwischen 2000 und 2007
Die bis November 2011 unbekannte Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" hat nach bisherigen Erkenntnissen zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen ermordet. Ihr letztes Opfer war eine Polizistin, alle anderen hatten einen türkischen oder griechischen Migrationshintergrund. Außerdem werden der Gruppe zwei Sprengstoffanschläge in Köln 2001 und 2004 mit insgesamt 23 Verletzten sowie eine Serie von Banküberfällen zur Last gelegt.
Da zwei der Mitarbeiter oder Inhaber von Imbissbuden gewesen waren, war die Mordserie in den Medien als "Döner-Morde" bezeichnet worden. Der Begriff wurde Anfang Januar zum Unwort des Jahres gewählt. Die Sonderkommission, die Mitte 2005 eingerichtet wurde, trug den Namen "Soko Bosporus".
Die Terrorzelle flog erst im November durch einen Zufall auf. Nach einem Banküberfall nahmen sich zwei ihrer Mitglieder, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, am 4. November 2011 das Leben, um sich der Festnahme zu entziehen. Beate Zschäpe, die mit den beiden im Untergrund gelebt hatte, stellte sich vier Tage später der Polizei.
Schweigeminute um 12.00 Uhr
Um 12.00 Uhr fand auf Anregung von Gewerkschaften und Arbeitgebern einer Schweigeminute in Deutschland statt. In einer gemeinsamen Erklärung hatten der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände "die Menschen in Deutschland" dazu aufgerufen, "um 12.00 Uhr für eine Schweigeminute in ihrer Arbeit innezuhalten". Im stillen Gedenken an die Opfer solle "ein kraftvolles Zeichen gesetzt werden". In Berlin und Hamburg soll der öffentliche Nahverkehr am Mittag für eine Minute ruhen.
DGB-Chef Michael Sommer sagte, die Rückmeldungen von Betrieben zu der Schweigeminute seien überwältigend. "Ich wünsche mir, dass sich viele Menschen beteiligen und unser Land eine Minute innehält." Viele Betriebe und der Zusammenhalt vieler Belegschaften seien positive Beispiele für erfolgreiche Integration, Respekt und Toleranz.
Quelle: ntv.de, hvo/AFP/rts/dpa