Politik

Der arme Herr Öner Merkel hängt mit Bürgern ab

Die Kanzlerin kann Google Hangout.

Die Kanzlerin kann Google Hangout.

(Foto: dpa)

Die Kanzlerin ist offen. Die Kanzlerin ist modern. Die Kanzlerin beherrscht die Techniken des Internets. So wollen ihre Kommunikationsberater Angela Merkel inszenieren. Mit einem "Google Hangout" tritt die CDU-Chefin mit Bürgern in den Dialog. Nach einer Stunde werden sich die PR-Experten auf die Schultern klopfen. Ein voller Erfolg. Nur nicht für den armen Herrn Öner.

Da ist Ismail Öner noch guter Dinge.

Da ist Ismail Öner noch guter Dinge.

Ismail Öner wird nächtelang unruhig geschlafen haben. Kanzlerin Angela Merkel will heute mit ihm sprechen. Es geht um sein Lebensthema: um Integration. Öner ist Jugendsozialarbeiter aus Berlin-Spandau. Er hat mit "Mitternachtssport" eine Initiative aufgebaut, die Jugendlichen an Wochenenden bis tief in die Nacht die Möglichkeit bietet, sich auszutoben statt auf der Straße Mist zu bauen. Nationalspieler Jerome Boateng unterstützt seine Arbeit, sie richtet sich vor allem an junge Menschen "mit Migrationshintergrund", wie es so (un)schön heißt. Er hätte sicher vieles zu sagen, Botschaften, die er der CDU-Chefin gerne mit auf den Weg geben will. Aber es ist nicht der Nachmittag des Herrn Öner.

Dabei ist heute der Tag, an dem Merkel zuhören will. Per Google Hangout, einer Form des Videochats mit bis zu neun Teilnehmern, können Bürgerinnen und Bürger der Kanzlerin Fragen stellen, eine Stunde lang, zum Auftakt geht es um Integration. Es ist nicht die erste moderne Technik, die Merkel im Kontakt mit dem Bürger ausprobiert. Aber es ist das erste Mal, dass der Hangout zum Einsatz kommt, was auch daran liegt, dass das eine in Deutschland noch recht neue und wenig bekannte Technik ist. Und die hat Tücken. Ismail Öner ist zwar für alle Beteiligten einwandfrei zu sehen. Aber der Ton ist kaputt. Gleich zu Beginn wird Öner befragt. Seine Lippen bewegen sich, doch er bleibt stumm.

Ausgewählte Bürger stellen ausgewählte Fragen

Kanzlerin Merkel hat sich mit der Aktion des Google Hangouts in den USA Inspiration gesucht. Ihr Kollege Barack Obama, so etwas wie der ungekrönte König des Bürgerdialogs im Internet, benutzt Hangouts schon seit geraumer Zeit. In Anlehnung an Franklin Delano Roosevelts "Fireside Chats" im Radio führt der US-Präsident regelmäßig "Fireside Hangouts" durch. Weil Obama solche Instrumente immer wieder gezielt einsetzt, gewinnt er Wahlen. Und eine Wahl hat Kanzlerin Merkel demnächst auch zu überstehen.

So sieht Obamas Hangout aus.

So sieht Obamas Hangout aus.

Nun ist nicht alles immer so, wie man es sich vorstellt. So geht es auch der Kanzlerin an diesem Nachmittag. Statt eines prächtigen Kamins wie bei seinem US-Vorbild, sitzt Merkel vor einer nüchternen grauen Wand. Glamourös zu wirken, ist noch nie eine Stärke der Kanzlerin gewesen. Und auch sonst wirkt sie rührend hölzern auf dem Computermonitor. "Mal sehen, wie das geht", gibt Merkel gleich zu Anfang ihre Unsicherheit preis. Und der Satz "Ich freue mich, dass wir das heute hier durchführen" will auch nicht so recht zum hippen Hangout passen. Aber geschenkt. Es soll ja um die Inhalte gehen.

Und da hat die Kanzlerin wenig zu befürchten. Sechs Bürger sitzen ihr gegenüber. Sie sind sorgsam ausgewählt worden, neben Herr Öner sind es fünf weitere Menschen, "die sich auf ihre persönliche Weise für Integration engagieren", heißt es im Pressetext der Bundesregierung. Alle Bürger konnten vorab Fragen einreichen, von denen ausgewählte in die Diskussion eingebracht werden sollten. Bloß: Eine Diskussion gab es nicht. Und die Vorauswahl der Einreichungen, die der reichlich devote Moderator Marc Weiß von Radio NRW vorlas, waren auch nicht eben dazu angetan, der Kanzlerin die Schweißperlen auf die Stirn zu treiben.

"Sehen Sie da irgendein rotes Symbol?"

So wurde der Kanzlerin sogar der Politiker-Klassiker des Marktplatzgesprächs schlechthin gestattet. Ein Bürger beklagt sich darüber, dass sein örtliches Jobcenter Anträge für Deutschkurse oft monatelang nicht bearbeitet. Ob Integration nicht manchmal an zu viel Bürokratie scheitere, will er wissen. Merkel ist angemessen schockiert. Drei Monate für einen solche Antrag, das sei freilich zu lange. Das geht nicht. Erleichterungen seien auf dem Weg. Und wenn es weiter nicht klappe, dann soll sich der Betroffene noch einmal an sie wenden. Per Brief. An die Bundeskanzlerin, Willy-Brandt-Str. 1, 10557 Berlin. Ob der Bürger je zu seinem Recht kommt? Es wird wohl niemals jemand erfahren.

Auch Herr Öner hat es weiter schwer. Der Hangout ist unterdessen vorangeschritten. Jeder hat schon einmal eine Frage stellen dürfen. Nur Herr Öner nicht. Ein zweiter Versuch. Merkel: "Herr Öner, hören Sie mich?" Herr Öner hört Frau Merkel. Aber Frau Merkel versteht noch immer keinen Mucks von dem, was Herr Öner sagt. "Die Technik sollte sich mal bemühen", findet Frau Merkel und weiß Rat: "Haben Sie ihr Micro eingeschaltet? Sehen Sie da irgendein rotes Symbol?" Herr Öner nimmt den Tipp zur Kenntnis. Auf Sendung findet er dadurch aber zunächst nicht.

Merkel ist seit einiger Zeit darum bemüht, mit den Bürgern in direkten Kontakt zu treten. Das soll eine ihrer Schwächen ausgleichen. Anders als viele andere Politiker ist Merkel etwas spröde. In Bierzelten zu sprechen, dem Bürger auch mal auf die Schulter zu klopfen, wie es etwa ihr Vorgänger Gerhard Schröder von der SPD gerne und gut machte, ist nicht ihre Sache. Viele mögen gerade das an Merkel, dass sie sich nicht so sehr anbiedert. Andere - ihre Kommunikationsberater gehören offenbar dazu - finden, dass sie das ändern muss. Das perfekte Feld dafür ist in ihren Augen das Internet. Und tatsächlich: Seit 2006 gibt es einen Video-Podcast, so etwas wie eine wöchentliche Neujahrsansprache. Ihr Regierungssprecher twittert was das Zeug hält. Letztes Jahr machte Merkel eine "Tele-Townhall", eine Telefonmassenkonferenz, die im Internet zu verfolgen war. Und jetzt der Hangout.

Endlich: Herr Öner hat Ton

Dazu kommen Treffen mit der Kanzlerin in Fleisch und Blut. "Dialog über Deutschlands Zukunft" heißt eine Reihe von Diskussionsrunden, bei denen Bürger in einer Art Ausscheidungsverfahren ausgewählt wurden, um schließlich bei einer zentralen Veranstaltung im vergangenen Juni in Berlin auf Merkel zu treffen. Ihnen ihre Ideen mitzuteilen, zu erklären, wie sie die Zukunft Deutschlands sehen. Wer heute auf die zugehörige Webseite guckt, sieht, was daraus geworden ist. Fast ein Jahr später gibt es dort ein Video zu sehen, in dem Merkel für die Teilnahme dankt. "Alle Vorschläge werden nun auf ihre Umsetzbarkeit geprüft." Alle Ideen hätten die Möglichkeit, auch von Merkel in die Tat umgesetzt zu werden. Das klingt alles reichlich unkonkret und entlarvt die Aktion als das, was sie ist: Regierungs-PR. So wie der Hangout mit der Kanzlerin.

Bei Herr Öner rotiert "die Technik", die Merkel so unter Druck gesetzt hat. Ein Mann beugt sich ins Bild, immer wieder verschwindet Öner aus dem Videochat. Und schließlich, um 17:48 Uhr: Herr Öner hat Ton! Endlich! Doch die Zeit ist da schon fast rum. Man ahnt, Öner weiß wovon er spricht. Doch er bekommt nicht mehr viel Gelegenheit, sich einzubringen. "Wenn das Herz gewonnen ist, ist der Weg zum Kopf nicht mehr weit", bringt Öner einen der Knackpunkte von gelungener Integration auf den Punkt. Ein schöner Satz. Nach einer Stunde Langeweile sind alle erleichtert. Endlich ein schöner Satz. Der arme Herr Öner hat Frau Merkel den Nachmittag gerettet.

Quelle: ntv.de

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