Beziehungen auf Eis NATO verärgert Russland
19.08.2008, 20:46 UhrMoskau hat gereizt auf die Entscheidung der NATO reagiert, den Russland-NATO-Rat vorerst auf Eis zu legen. Das Militärbündnis habe bei seinem Sondertreffen in Brüssel "nicht objektiv" geurteilt, sagte der russische Außenminister Sergej Lawrow in Moskau. Zugleich sagte Russlands Präsident Dmitri Medwedew in einem Telefonat mit seinem französischen Kollegen Nicolas Sarkozy zu, Russland werde seine Truppen bis Freitag aus Georgien zurückziehen und sich an den vereinbarten Waffenstillstand halten. Medwedew habe zudem sein Einverständnis zur Entsendung von Beobachtern der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in das Konfliktgebiet bekräftigt, ließ Sarkozy mitteilen.
Die 26 Außenminister der NATO hatten zuvor die Zusammenarbeit mit Russland im NATO-Russland-Rat gestoppt. "Solange die russischen Truppen Georgien praktisch besetzt halten, kann ich nicht sehen, wie wir den NATO-Russland-Rat einberufen können", sagte Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer nach einem Krisentreffen der Außenminister. Damit seien vorerst nicht nur Treffen auf Ministerebene, sondern auch auf Botschafterebene ausgesetzt. "Aber wir werden nicht alle Kommunikationsmöglichkeiten mit Russland abschneiden", versicherte er.
US-Außenministerin Condoleezza Rice sprach von "einem starken Signal, dass wir es nicht dulden werden, dass eine neue Trennungslinie durch Europa gezogen wird zwischen jenen, die Glück hatten, in die NATO zu kommen, und jenen, die das nicht schafften". Der russische Präsident Dmitri Medwedew müsse dafür sorgen, dass der von ihm versprochene Abzug der russischen Truppen aus Georgien auch tatsächlich erfolge. "Die USA haben keine Absicht, Russland zu isolieren", sagte sie. Russland isoliere sich durch sein Handeln selbst.
Georgien-Ausschuss
Die NATO-Minister waren sich nach den Worten De Hoop Scheffers darüber einig, "dass wir nicht so tun können, als sei nichts passiert". In einer gemeinsamen Erklärung der Minister heißt es: "Wir fordern Moskau auf, in Worten und Taten zu zeigen, dass es sich nach wie vor jenen Prinzipien verpflichtet fühlt, auf denen wir unsere Zusammenarbeit aufgebaut haben." Die Minister bekräftigten das im April in Bukarest gegebene Versprechen, Georgien ebenso wie die Ukraine zu einem späteren Zeitpunkt in das Bündnis aufzunehmen. Die NATO stehe zu diesen Beschlüssen, versicherten Rice und De Hoop Scheffer. Zudem beschlossen die Minister die Einsetzung eines NATO-Georgien-Ausschusses. Das Gremium soll auf verschiedenen politischen Ebenen zu aktuellen Fragen tagen.
"Kriminelles Regime"
Russlands Außenminister kündigte Konsequenzen an. Für seine künftige Beziehung zur NATO werde sein Land "die Schlüsse ziehen, die sich aufdrängen", erklärte Lawrow. Die NATO habe den georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili "in Schutz genommen" und versuche, dessen "kriminelles Regime" zu retten. Dies sei jedoch längst "bankrott".
Zugleich warf er der NATO vor, auf eine "Wiederbewaffnung" Georgiens ausgerichtet zu sein. Lawrow unterstrich erneut die ablehnende Haltung gegenüber einem NATO-Beitritt Georgiens. Die Entscheidung des Bündnisses, die Bemühungen in Tiflis zu fördern, sei "anti-russischer" Natur, sagte der Außenminister. Die Politik, mit der Georgien in das Bündnis eingegliedert werden solle, orientiere sich nicht daran, ob das Land die erforderlichen Kriterien erfülle, sondern werde "ausschließlich durch Ziele diktiert, die nichts anderes als Russland-feindlich sind", ergänzte Lawrow.
Steinmeier: Kontakt halten
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier forderte die NATO auf, den Kontakt zu Russland nicht auf Dauer abreißen zu lassen. Der Beschluss habe gezeigt, dass die NATO "zu einer gemeinsamen Antwort in der Lage ist". Sie sei auch "bereit, angemessen und vernünftig in einer Weise zu handeln, die mehr Stabilität in der Region ermöglicht." Steinmeier sagte, er hoffe darauf, dass der NATO-Russland-Rat nach dem Abzug der russischen Truppen rasch wieder einberufen werde. "In meinem Verständnis ist der NATO-Russland-Rat kein Schönwettergremium. Er wird gerade gebraucht, wenn wir uns in schwierigem Fahrwasser befinden."
Steinmeier kündigte zudem an, dass das Auswärtige Amt die humanitäre Soforthilfe für Georgien auf zwei Millionen Euro verdoppelt. "Angesichts von mehr als 150.000 Flüchtlingen müssen wir unbedingt mehr tun", begründete der deutsche Außenminister die Aufstockung der Mittel. Nach dem Ende der Kämpfe müsse es oberste Priorität haben, die Not der vielen Menschen zu lindern, die verletzt oder aus den Konfliktgebieten Südossetien und Abchasien vertrieben worden seien. Die Vereinten Nationen haben die Weltgemeinschaft für die humanitäre Hilfe nach dem Krieg in Georgien um umgerechnet 40 Millionen Euro gebeten. Mit dem Geld sollen die rund 130.000 von den Kämpfen betroffenen Menschen zumindest für das nächste halbe Jahr mit dem Allernötigsten versorgt werden - mit Essen, Medikamenten, Kleidung, Unterkunft und Wasser.
Stadt Gori verwaist
Nach Schätzung des UN-Flüchtlingshilfswerks haben allein 118.000 Menschen durch die Feindseligkeiten in den vergangenen zwei Wochen ihre Heimat verloren. Die humanitäre Hilfe wird UN-Angaben zufolge weiter durch den beschränkten Zugang zu den besonders betroffenen Gebieten erschwert. Der Westen des Landes könne nach wie vor nur durch Lufttransporte erreicht werden, hieß es.
Erstmals waren Helfer auch in die am stärksten zerstörte georgische Stadt Gori vorgedrungen. UNHCR-Mitarbeiter hätten die Stadt am Sonntag wie verwaist vorgefunden, hieß es. Im Zentrum seien sie auf 50 bis 60 Menschen getroffen, die verzweifelt auf Hilfe warteten. Die Häuser seien zwar nicht so stark zerstört wie angenommen, doch gebe es eindeutige Hinweise auf massive Plünderungen in Wohnungen und Geschäften.
OSZE schickt 100 Beobachter
Die OSZE, der auch Russland angehört, will die Zahl ihrer Beobachter in Georgien auf 100 erhöhen. Noch in dieser Woche könnten 20 OSZE-Experten in die Konfliktregion reisen, hieß es nach einer Sitzung der 56 Mitgliedsländer in der Wiener Hofburg. Sie sollen in einem "Gebiet in der Nachbarschaft von Südossetien stationiert werden" und "zur Stabilisierung der Lage und zur Koordination der internationalen Hilfe" beitragen, sagte der finnische OSZE-Botschafter Aleksi Harkonen. Finnland führt zurzeit den Vorsitz im Ständigen Rat der OSZE.
Vorwürfe gegen Georgien
Der stellvertretende russische Generalstabschef Anatoli Nogowizyn warf unterdessen während einer live im Fernsehen übertragenen Pressekonferenz der Führung in Tiflis vor, sich nicht an Vereinbarungen zu halten. "Die georgische Armee hält die Verfügung von Präsident Michail Saakaschwili über eine Rückkehr in die Kasernen nicht ein." Der General forderte Saakaschwili auf, die 2000 georgischen Elitesoldaten, die während des Kriegs aus dem Irak zurückbeordert worden waren, wieder dorthin zu schicken. Nogowizyn sagte zudem, dass Kriegsschiffe der USA sowie von Polen und Kanada auf dem Weg ins Schwarze Meer seien. Sie dürften dort bis Ende August eintreffen.
Georgien seinerseits warf russischen Einheiten vor, in den Ölhafen der Schwarzmeerstadt Poti vorgedrungen zu sein und 20 georgische Polizisten gefangengenommen zu haben. Ein Kameramann der Nachrichtenagentur Reuters beobachtete, wie mehrere Männer mit verbundenen Augen in russischen Panzerfahrzeugen abtransportiert wurden. Ein Sprecher des russischen Innenministeriums bestätigte die Festnahme 20 "schwer bewaffneter" Georgier. Am Samstag hatten russische Soldaten Ausrüstung aus dem militärischen Teil des Hafens geschafft.
"Georgien plant Anschläge in Russland"
Russland warf Georgien zudem die Planung von Anschlägen auf strategische Ziele in Russland vor. Es gebe entsprechende Informationen, sagte der Chef des russischen Geheimdienstes FSB, Alexander Bortnikow, der russischen Agentur Interfax: "Wir müssen besonders sensible Punkte unserer Infrastruktur gegen Terror-Attacken schützen."
Georgien wies die Vorwürfe als unsinnig zurück. "Die Russen suchen nach einem Vorwand, um ihre Besetzung zeitlich und räumlich auszuweiten", sagte ein Sprecher des georgischen Innenministeriums.
Gefangenenaustausch zwischen Tiflis und Gori
Ein für Montag geplanter Gefangenenaustausch fand am Dienstag statt. 13 georgische Soldaten seien im Austausch gegen fünf russische Soldaten auf einer Straße zwischen Tiflis und Gori übergeben worden, berichtete ein Reporter der Nachrichtenagentur AFP. Der Austausch habe sich an einem Kontrollpunkt rund 30 Kilometer von der georgischen Hauptstadt entfernt ereignet. Die Georgier, von denen zwei verletzt waren, seien zuvor mit einem russischen Hubschrauber zu dem Austauschort gebracht worden.
Quelle: ntv.de