Gratis-Cocktails im 1. Klasse-Abteil Neue Rollen im Bundestag
10.11.2009, 17:57 UhrAngela Merkel hält eine Regierungserklärung, und Guido Westerwelle muss anschließend schweigen. Vier Jahre lang gab der redegewandte FDP-Chef den Lautsprecher der Opposition im Bundestag. Die Abrechnung mit der Kanzlerin übernehmen jetzt Andere.
Nach dem Wechsel von der Großen Koalition zum schwarz-gelben Bündnis waren jetzt erstmals die neuen Machtverhältnisse und damit auch die vertauschten Rollen für etliche Akteure zu besichtigen.
Mit zusammengekniffenen Lippen lauschte der neue Vizekanzler der beißenden Kritik von Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin. Da habe die FDP doch vor der Wahl das Entwicklungshilfeministerium abschaffen wollen, und nun sei Westerwelles Parteifreund Dirk Niebel als Amtschef quasi "sein eigener Abwicklungsminister".
Nicht nur der FDP-Chef fand sich in einer ungewohnten Rolle wieder. Auch die Kanzlerin hat es nun mit einer lautstarken Opposition zu tun. Vier Jahre lang lauschten mehr als zwei Drittel der Abgeordneten von Union und SPD ihren Worten. Künftig schlagen ihr aus einer deutlich größeren Opposition permanent Zwischenrufe und Gejohle entgegen. Bei der Ankündigung einer "schonungslosen Analyse unseres Landes" erntete sie schallendes Gelächter. Bisweilen blieb der Applaus aus den eigenen Reihen zurückhaltend. Als Merkel aber zur Steuerpolitik auf liberale Leitsätze wie "Leistung muss sich wieder lohnen" zurückgriff, brach Jubel aus.
"Die, die abgehängt werden"
Auf Oppositionsseite startete nach der Merkel-Rede der neue SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier den Rhetorik-Wettkampf um den inoffiziellen Titel des Oppositionsführers. Der Ex-Außenminister präsentierte eine passabel vorgetragene Rede ohne Glanzlichter. Der Wahlverlierer beschied Schwarz-Gelb einen Fehlstart und konzentrierte sich auf den Vorwurf der sozialen Kälte: "Sie spalten das Land in die, die allein zurechtkommen und in die, die abgehängt werden." Frank und frei auftrumpfen konnte der Architekt der SPD-Agenda-Politik nach zehn Jahren Regierungsverantwortung (noch) nicht.
Die Linke schickte anstelle von Fraktionsführer Gregor Gysi Oskar Lafontaine. Der Versuch einer politischen Standpauke trug Züge einer Abschiedsrede des bisherigen Co-Fraktionschefs. Statt auf dem Koalitionsvertrag, ritt er lieber auf seinen Steckenpferden herum und forderte einmal mehr die strengere Regulierung der Finanzmärkte, die Abschaffung von Hartz-IV und den Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan.
Lok fährt mit Kohle und Atom
Dem Grünen Trittin gelangen dagegen verbale Attacken, ohne die sich keine Oppositionsfraktion öffentliche Aufmerksamkeit sichern kann. Der Koalitionsvertrag sollte statt "Mut zur Zukunft" angesichts vieler vertagter Entscheidungen besser den Titel "Mut zum Prüfauftrag" tragen. Streckenweise hielt Trittin eine ähnliche Rede wie Steinmeier, allerdings mit mehr Resonanz. Merkel sei "im Schlafwagen" an die Macht gekommen. Nun gebe sie sich zu erkennen, leitete er seine Generalkritik ein und erntete dafür Lacher selbst aus den Koalitionsfraktionen. "Ihre Lok fährt mit Kohle und Atom. Die hinteren Waggons werden abgehängt. In der zweiten Klasse fällt die Heizung aus. Im Bistro-Waggon steigen die Preise. Dafür werden in der ersten Klasse Gratis-Cocktails serviert."
Quelle: ntv.de, Matthias Sobolewski und Andreas Möser / rts