Politik

Brüsseler Knoten ungelöst Polen legt sich quer

Der EU-Gipfel zur Zukunft Europas ist in Brüssel in seine entscheidende Phase eingetreten. Bundeskanzlerin Angela Merkel unterrichtete als amtierende EU-Ratspräsidentin bei einem Mittagessen die anderen 26 Staats- und Regierungschefs über ihre bilateralen Gespräche zur Schaffung einer neuen Rechtsgrundlage für die EU. Es gebe keine Katastrophenstimmung, hieß es aus der deutschen Delegation. Ein Problem nach dem anderen werde abgearbeitet. "Es braucht noch Zeit", verlautete zum weiteren Verlauf der Gespräche. Weiterhin wird mit einer Verständigung frühestens in der Nacht zum Samstag gerechnet.

Zum Abschluss der Einzelgespräche trifft der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker mit Merkel zusammen. Das berichteten Diplomaten am Rande des Treffens. Im Streit um einen neuen Grundlagenvertrag der Union gilt der konservative Juncker, dienstältester EU-Regierungschef, als treuester Verbündeter der Kanzlerin.

In den Einzelgesprächen - auch "Beichtstuhlverfahren" genannt - will die Ratspräsidentin der Lösung der Verfassungskrise näher kommen. Zunächst sprach sie mit dem polnischen Präsidenten Lech Kaczynski erneut über Warschaus Verlangen nach mehr Stimmengewicht im EU-Ministerrat. Später diskutierte sie mit dem britischen Premier Tony Blair, der ebenfalls Einwände gegen Teile des EU-Grundlagenvertrags hat, sowie mit den Regierungschefs der Niederlande und Tschechiens.

Bisher sind die Fronten verhärtet geblieben; lediglich in einzelnen Fragen gab es Delegationskreisen zufolge Fortschritte. Von einer Einigung - vor allem mit Polen und Großbritannien - sei man aber noch weit entfernt. "Wir arbeiten fleißig, und die Probleme sind noch nicht gelöst", so Merkel. "Aber alle versuchen es."

Polen lehnt das von praktisch allen anderen EU-Staaten unterstützte Abstimmungsprinzip der doppelten Mehrheit ab. Danach wäre für Beschlüsse im EU-Ministerrat eine Mehrheit von 55 Prozent der Mitgliedstaaten erforderlich, die zugleich mindestens 65 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung repräsentieren müssen. Polen will, dass das Stimmengewicht der EU-Staaten an der Quadratwurzel der Bevölkerungszahl berechnet wird. Das würde zu einer Verschiebung des Stimmengewichts zu Gunsten der kleinen und mittleren Mitgliedstaaten führen.

Bereits in der Nacht hatte Merkel mit Kaczynski Gespräche aufgenommen. Daran hatten auch die Präsidenten Frankreichs und Litauens, Nicolas Sarkozy und Valdas Adamkus, teilgenommen. Nach Angaben von Diplomaten wollte Sarkozy Kaczynski als Kompromiss vorschlagen, das Bevölkerungsquorum von 65 auf 70 Prozent zu erhöhen. Dies würde den Einfluss der kleinen und mittleren Staaten insoweit stärken, als sie Entscheidungen leichter blockieren könnten. Die Bildung einer Sperrminorität würde ihnen erleichtert.

Frostige Atmosphäre

Nach Angaben des tschechischen Regierungschefs Mirek Topolanek hat Kaczynski sogar weitere Forderungen vorgelegt. Außer einer Änderung des Stimmenverhältnisses verlange Warschau Verhandlungen über den rechtlichen Status der EU und die Außenpolitik des Bündnisses, sagte Topolanek: "Der Auftritt sorgte für eine frostige Atmosphäre im Auditorium, weil durch ihn offensichtlich wurde, dass Polen nicht zu Kompromissen bereit ist."

Das polnische Staatsoberhaupt habe zudem vorgeschlagen, den Streit um das Stimmenverhältnis aus dem Programm auszuklammern und auf einem Sondertreffen zu behandeln, sagte Topolanek: "Aber auch, wenn sich die Mitglieder darauf verständigen sollten, würde dies nicht bedeuten, dass Polen nachgibt."

Der polnische Rundfunk hatte zuvor berichtet, dass Kaczynski bei dem nächtlichen Gespräch mit Merkel und Sarkozy vorgeschlagen hatte, den Vertrag von Nizza bis 2020 gelten zu lassen. Das System der doppelten Mehrheit aus Mitgliedstaaten und Bevölkerungszahl könnte erst danach in Kraft treten. Bei den bis dahin fälligen Haushaltsentscheidungen wären zudem einstimmige Entscheidungen notwendig.

Postwendend erteilte Juncker dem Vorschlag für ein längeres Arbeiten mit dem ungeliebten EU-Vertrag von Nizza eine Absage. Das wäre eine "sehr schlechte Lösung", sagte Juncker. Der seit 2003 geltende Nizza-Vertrag billigt Polen im Vergleich zu großen EU-Staaten wie Deutschland ein relativ starkes Gewicht bei Abstimmungen in den Ministerräten zu. Auf jeden Fall stellt der Nizza-Vertrag Polen besser als die Abstimmungsregeln in der gescheiterten Verfassung.

Auch Spekulationen, wonach Merkel Kaczynski ein verspätetes Inkraft-Treten der neuen Regelungen im jahr 2014 als Kompromiss angeboten habe, wurden zurückgewiesen.

Kaczynski und Blair mauern

In einer ersten Verhandlungsrunde während des Abendessens am Donnerstag hatten alle Regierungschefs an ihren Standpunkten festgehalten. Kaczynski und Blair zementierten ihre Blockade-Positionen. Im erbitterten Streit um mehr Einfluss in der Europäischen Union machte Polen auch die Kriegsschuld Deutschlands geltend - ein in der EU-Geschichte beispielloser Vorgang. "Wir verlangen nur das, was uns genommen wurde", hatte Polens Regierungschef Jaroslaw Kaczynski, der Zwillingsbruder von Lech Kaczynski, in Interviews gesagt. "Wenn Polen nicht die Jahre 1939-1945 durchgemacht hätte, wäre Polen heute ein Land mit einer Bevölkerung von 66 Millionen."

Blair wehrt sich gegen vier Punkte. Darunter sind eine stärkere Rolle der EU in der Außenpolitik und Auswirkungen der EU-Grundrechtecharta auf nationales Recht in Großbritannien. Nach Angaben seines Sprechers beharrte Blair auf "vier roten Linien", hinter die er nicht zurückweichen werde. "Das hier ist kein Verhandlungsritual, das ist echt."

Quelle: ntv.de

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