"Das hier ist die neue Türkei!" Protestbewegung trotzt Polizeigewalt
16.06.2013, 18:30 Uhr
Auch am Sonntag gingen wieder Hunderte Demonstranten auf die Straße.
(Foto: REUTERS)
Die türkische Protestbewegung trotzt den Wasserwerfern und Tränengasangriffen der Polizei und strömt auch am Tag nach der brutalen Räumung des Gezi-Parks zu Tausenden auf die Straße. Ministerpräsident Erdogan beschuldigt ausländische Medien, gezielt Desinformation zu betreiben.
Zehntausende Menschen haben sich in Istanbul zu neuen Demonstrationen gegen den islamisch-konservativen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan versammelt. Nach einem Aufruf der Protestbewegung versuchten die Demonstranten, aus umliegenden Stadtvierteln in Richtung des von der Polizei abgeriegelten Taksim-Platzes zu gelangen, berichteten Augenzeugen.
In mehreren Vierteln gab es heftige Zusammenstöße der Demonstranten mit der Polizei. In der zum Taksim-Platz führenden Istiklal-Straße versuchte die Polizei stundenlang vergeblich, tausende Demonstranten mit Wasserwerfern und Tränengas zu vertreiben. "Überall ist Taksim, überall ist Widerstand", riefen die Demonstranten. Erneut schlossen sich Tausende Fußballfans den Protesten an, die von Besiktas aus zum Taksim-Platz gelangen wollten.
In der Nacht zuvor hatte die türkische Polizei das Zeltlager der Demonstranten im Gezi-Park gestürmt. Mit der gewaltsamen Räumung erlebte die türkische Stadt eine der gewalttätigsten Nächte seit Beginn der Proteste vor knapp drei Wochen. Hunderte Menschen wurden nach Angaben der Protestbewegung verletzt. Die Polizei habe ihren Einsatz mit einer Gewalt wie im Krieg geführt, kritisierte die Taksim-Plattform, die zu den wichtigsten Organisatoren der Proteste gehört.
"Es war wie eine Jagd auf Menschen"
Auch die Grünen-Politikerin Claudia Roth musste entsetzt miterlebt, wie das Protestlager am Taksim-Platz geräumt wurde. "Das ist wie im Krieg. Die jagen die Leute durch die Straßen und feuern gezielt mit Tränengas-Granaten auf die Menschen", sagt die Parteivorsitzende der Grünen, die selber bitter brennendes Gas abbekam.
Alles sei friedlich gewesen, als die Polizei plötzlich eingegriffen habe, sagt sie. "Von einer Sekunde auf die andere kamen Schüsse wie eine Bombe", sa gt sie. Sie habe sich in ein Hotel gerettet. "Die haben echt auf die Leute geschossen. Es war wie eine Jagd auf Menschen", sagte sie zum gezielten Feuer mit Tränengasgranaten.
"Was Erdogan nicht verstehen kann oder will: Das hier ist die neue Türkei! So etwas gab es hier noch nie. Zum ersten Mal bildet sich eine Zivilgesellschaft heraus, die nicht von den klassischen Parteien beherrscht wird. Wir sind an der Seite dieser neuen Türkei, das muss die klare Botschaft aus Berlin und Brüssel sein", sagte Roth im "Zeit"-Interview. Trotz allem warnte Roth davor, die Gespräche über einen Eintritt der Türkei in die EU abzubrechen: "Jetzt den Beitrittsprozess zu beenden, wäre genau das Falsche. Unsere Position ist: Jetzt erst recht! Das Kapitel über die Justizthemen in den Verhandlungen endlich angehen, beispielsweise. Ein glaubwürdiger Beitrittsprozess könnte der Rahmen und der Schutz sein für eine weitere Demokratisierung der Türkei."
Erdogan wirft ausländischer Presse Desinformation vor
Erdogan warf indes internationalen Medien vor, sie berichteten falsch über sein Land. In einer Rede vor Zehntausenden von Anhängern seiner islamisch-konservativen Regierungspartei AKP behauptete er, die britische BBC, der US-Nachrichtensender CNN und die Nachrichtenagentur Reuters betrieben Desinformation. In den vergangenen Tagen hatten bereits einige Tageszeitungen aus dem religiösen Spektrum Stimmung gegen ausländische Medien gemacht. Mehrere türkische Medien waren von der Gezi-Park-Protestbewegung kritisiert worden, weil sie kaum über das gewaltsame Vorgehen der Polizei gegen demonstrierende Regierungsgegner berichtet hatten.
Die Kundgebung vor Zehntausenden Anhängern der Regierungspartei fand auf dem größten Platz der türkischen Metropole Istanbul statt und stand unter dem Motto "Los, lasst uns Geschichte schreiben!". Am Nachmittag präsentierte sich der mit Musik beschallte Versammlungsplatz als ein Meer aus Fahnen - die orangefarbene Fahne der islamistischen Partei und die rot-weiße türkische Nationalfahne.
Oppositionelle und Sympathisanten der sogenannten Gezi-Park-Bewegung kritisierten, dass die Anhänger der regierenden AKP mit Bussen zu ihrem Versammlungsort im Vorort Zeytinburnu gebracht wurden, während es keine öffentlichen Verkehrsmittel für Bürger gab, die zum Taksim-Platz fahren wollten.
Quelle: ntv.de, jve/dpa/rts