
Auch wenn in den Debatten viele Sitze leer bleiben, ist der Bundestag voll wie nie.
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Die Union reagiert mit scharfen Vorwürfen auf die Vorschläge der Ampelfraktionen zur Reform des Wahlrechts. Die können die Aufregung nicht nachvollziehen, weil sie selbst Mandate abgeben müssten, wenn der Bundestag kleiner werden soll. Doch auch in der SPD gibt es Widerspruch.
Sich selbst aus dem Parlament zu kegeln, ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was Politiker antreibt. Schließlich müssen Abgeordnete und solche, die es werden wollen, für ein Mandat oft viele Jahre unbezahlter Parteiarbeit investieren. Trotzdem sind die Mitglieder des Bundestags entschlossen, sich in der laufenden Legislaturperiode ein wenig abzuschaffen. Eine Wahlrechtsreform soll her, die das Parlament von 736 Abgeordneten zurückstutzt auf die ursprünglich vom Grundgesetz vorgesehene Regelgröße von 598 Sitzen. Umso mehr verwundern auf den ersten Blick die wütenden Reaktionen der Union auf einen entsprechenden Reformvorschlag der Ampelfraktionen: "Organisierte Wahlfälschung" warf CSU-Generalsekretär Martin Huber der Koalition am Montag vor, eine "eklatante Missachtung des Wählerwillens" beklagte der CSU-Bundestagsabgeordnete Stefan Müller. Milder, aber nicht minder entschieden bezeichnete CDU-Chef Friedrich Merz das vorgelegte Konzept als "inakzeptabel".
Die scharfe Wortwahl mag auch dem Frust darüber geschuldet sein, dass die Union im Grunde die Reform gar nicht aufhalten kann. Im Bundestag ist sie unterlegen, im Bundesrat müssten CDU-regierte Länder eine Mehrheit organisieren, um das Vorhaben, ein sogenanntes Einspruchsgesetz, zu stoppen. Das scheitert aber daran, dass die Partei in den Ländern mit einer oder zwei der Ampelparteien regiert. Andererseits ist das am Wochenende vorgestellte Ampel-Vorhaben gewaltig, verändert wie vielleicht keine andere Reform seit 1949 die parlamentarische Demokratie und das deutsche Verständnis davon, was Repräsentation - die Vertretung des Wählerwillens durch eine gewählte Person - bedeuten soll.
Einschnitt in Personenwahl
Der Vorschlag von SPD, Grünen und FDP würde die bundesrepublikanische Mischung aus Personen- und Verhältniswahlrecht weitgehend abschaffen. Der Bundestag würde künftig durch ein Verhältnis- oder Proporzwahlrecht bestimmt. Die Zweitstimmen, die dann Hauptstimmen heißen sollen, würden allein über die Verteilung der Sitze auf die angetretenen Parteien entscheiden. Überhangmandate würden wegfallen. Diese kommen immer dann zustande, wenn eine Partei mehr Wahlkreise direkt gewonnen und damit Mandate erobert hat, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zusteht. Um die Kräfteverhältnisse darüber nicht auszuhebeln, bekommen die anderen Parteien dann Ausgleichsmandate. Vor allem FDP und Grüne profitieren von dieser Regelung, weil sie keine oder nur wenige Direktmandate, aber zweistellige Zweitstimmenergebnisse errangen.
Die heutige Mehrparteienlandschaft, in der nicht mehr Union und SPD dominieren, hat die Zahl dieser Überhang- und Ausgleichsmandate immer weiter anwachsen lassen. Der Bundestag ist inzwischen ein Viertel überm Soll. Ohne Eingriffe hielten Wahlforscher auch bis zu 1000 Abgeordnete für möglich. Das ist nicht nur teuer, für so viele Parlamentarier gibt es auch weder genügend Räume noch Aufgaben. Eine von der Großen Koalition 2020 verabschiedete Reform hat kaum bremsende Wirkung. Der damalige Kompromiss sah für die Bundestagswahl 2025 einen Neu-Zuschnitt der Wahlkreise vor, doch größere Wahlkreise in weniger dicht besiedelten Regionen würden die Wahlkreisvertreter zu noch längeren Fahrten zwingen und ihre Wähler sie seltener zu Gesicht bekommen. Die Art und Weise des Zuschnitts eignet sich zudem vortrefflich für weiteren Streit, schließlich müssten ja auch Wahlkreise aufgelöst werden, während die neue Aufteilung das Wahlergebnis beeinflusst.
"Trifft alle Fraktionen in gleicher Weise"
Die Ampelfraktion dagegen sieht durch ihren Plan jedweden Streit vorab ausgeräumt. Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Irene Mihalic, sagt am Mittwoch, der Sitzverlust werde die Parteien in etwa gleich stark treffen: "Alle Fraktionen sind proportional vom gleichen Thema betroffen." Katja Mast, die das gleiche Amt bei der SPD-Fraktion innehat, stößt ins selbe Horn: Es sei mutig, dass die Ampelparteien auch die eigenen Fraktionen zu schrumpfen bereit sind. "Das Bestechende ist, dass unser Vorschlag zur Reform des Wahlrechts alle Fraktionen in gleicher Weise trifft." Nach Berechnungen der "Zeit" auf Grundlage des Wahlergebnisses von 2021 würde einzig der CSU-Stimmanteil im Bundestag nennenswert sinken: von 6,1 auf 5,7 Prozent aller Abgeordnetensitze.
Die Union argumentiert aber nicht mit der höchstens Handvoll an Sitzverlusten, sondern mit einer schwerwiegenden, grundsätzlicheren Veränderung: Künftig könnten Wahlkreissieger leer ausgehen. Die Reform verkehrt das Überhangmandat ins Gegenteil: Hat eine Partei in einem Land ein schwaches Zweitstimmenergebnis erzielt und zugleich mehr Direktmandate, als ihr nach der Zweit- oder Hauptstimme zustehen, gehen die Wahlkreissieger mit dem schwächsten Stimmenergebnis leer aus. So könnten ganze Wahlkreise ohne politischen Vertreter in Berlin bleiben - oder aber, sie würden durch jemand anderen als den Wahlkreissieger vertreten, weil er oder sie aus dem Wahlkreis stammt und über den guten Listenplatz seiner Partei in den Bundestag einzieht.
"Mehr als starker Tobak"
Die "Zeit" und die Bertelsmann-Stiftung kommen in unabhängig voneinander errechneten Anwendungen dieses Modells auf das letzte Wahlergebnis auf 5 von 299 Wahlkreisen, die ohne politischen Vertreter in Berlin geblieben wären. Die Autoren des Gesetzentwurfes rechnen eher mit 3 Wahlkreisen ganz ohne eigenen Repräsentanten in Berlin. 35 weitere Wahlkreise würde durch jemand anderen als den Direktsieger vertreten. Die CSU zum Beispiel hätte 11 ihrer 45 Mandatsträger nicht im Bundestag, obwohl die in ihrem Wahlkreis das stärkste Stimmenergebnis erzielt haben. So geht es beim Furor der CSU eben doch auch um das eigene Hemd. Die Wortwahl der CSU-Vertreter sei "mehr als starker Tobak", kritisiert Mast. Mihalic findet die Rhetorik der Christsozialen "unter Demokraten einfach furchtbar".
SPD, Grüne und FDP verweisen dennoch auf ein Gesprächsangebot, das sie Union und Linkspartei gemacht haben. Was sie dort an Verhandlungsmasse anzubieten hätten, ist vollkommen unklar. Einen eigenen Gesetzentwurf hat die Union nicht parat. Das von der CSU immer wieder ins Spiel gebrachte Grabenwahlsystem lehnen die Ampelparteien ab. Die CSU-Landesgruppe würde in so einem Modell auf 13 Prozent anwachsen, die Grünen-Fraktion um 60 Prozent schrumpfen, rechnet Sozialdemokratin Mast die vermeintliche Einseitigkeit des Grabenwahlsystems vor.
Zweifel in der SPD
Die SPD-Fraktion hat sich am Dienstag bereits intern auf eine Zustimmung zur Wahlrechtsreform verständigt. FDP und Grüne wollen kommende Woche folgen. Mast macht keinen Hehl daraus, dass die Debatte in der Fraktion "kontrovers" gewesen sei. Im Osten hatten die Sozialdemokraten 2021 viele Direktmandate errungen. Die stehen nach der Reform auf der Kippe. Zudem laufen ausgerechnet im Osten relativ viele Wahlkreise Gefahr, keinen direktgewählten Kandidaten nach Berlin zu schicken oder ganz ohne Wahlkreisabgeordneten dazustehen. Erik von Malottki, der für die SPD den Wahlkreis Mecklenburgische Seenplatte 1 - Vorpommern - Greifswald 2 erobert hatte, fürchtet, dass der gesamte Nordosten bald keinen eigenen Wahlkreisvertreter in Berlin mehr haben könnte. "Die Region fühlt sich sowieso abgehängt, jetzt auch noch das", sagte Malottki der "Zeit". Er will gegen das Vorhaben stimmen.
Trotz der Zweifel in Teilen der SPD soll das Gesetz vor Ostern die Parlamente passieren, damit vor der nächsten Bundestagswahl genügend Zeit bleibt, ein mögliches Urteil des Verfassungsgerichts hierzu abzuwarten. Dass die Union in Karlsruhe eine Normenkontrollklage anstrengt, ist am Mittwoch ein wenig unwahrscheinlicher geworden. Nach Informationen der Nachrichtenagentur Reuters wollen nicht genügend CDU-Abgeordnete dafür stimmen, um auf die notwendigen 25 Prozent des Parlaments zu kommen. In der CDU sei der Groll noch immer groß darüber, dass die CSU aus purem Eigeninteresse einen Kompromiss der Großen Koalition mit FDP und Grüne ausgebremst und damit eine tiefgreifendere Wahlreform verhindert hatte.
Die Kritik der Linken hält sich bislang in Grenzen. Das Reformkonzept nimmt nämlich besondere Rücksicht auf die Bedürfnisse der mächtig unter Druck stehenden Partei. 2021 war die Partei nicht über die Hürde von 5 Prozent der Zweitstimmen gekommen und durfte nur deshalb in Fraktionsstärke in den Bundestag einziehen, weil sie den hierfür nötigen Mindestwert von drei Direktmandaten erzielt hatte. Diese sogenannte Grundmandatsklausel bleibt im Gesetzentwurf unberührt. Dabei passt diese den Wert der Personenwahl betonende Ausnahme nur bedingt zur künftig deutlich stärker gewichteten Verhältniswahl. Die Ampelkoalition kriegt ihr Vorhaben wohl auch so durch. Den Vorwurf, mit der Reform zusätzlich eine ohnehin schon am Boden liegende Oppositionspartei aus dem Parlament zu kegeln, wollte man sich nicht offenbar nicht einhandeln. Schwer genug, die jeweils eigenen Leuten dazu zu bewegen, im Zweifel gegen sich selbst zu stimmen.
Quelle: ntv.de