Auch Gagausien will "Schutz" Russland baut den nächsten Marionettenstaat auf
21.03.2024, 17:13 Uhr
Das Wappen der Autonomen Region Gagausien auf dem Regierungsgebäude in Comrat.
(Foto: picture alliance / Caro)
Die Republik Moldau will in die EU, doch Russland könnte den endgültigen Schritt in den Westen verhindern. Neben Transnistrien bittet die Region Gagausien Moskau ebenfalls um "Schutz". Auch die Türkei spielt eine Rolle.
Transnistrien ist seit dem russischen Großangriff auf die Ukraine verstärkt im Fokus. Das kleine Separatistenland auf dem Staatsgebiet der Republik Moldau grenzt direkt an die Ukraine, steht aber Russland besonders nah. Deshalb hat die Führung der autonomen, aber international nicht anerkannten Region Moskau Ende Februar offiziell um "Schutz" gebeten. Das ist in der Vergangenheit schon einige Male passiert, mittlerweile reagiert der Westen sensibel auf solche Meldungen. Schließlich ist bekannt, was passieren kann, wenn prorussische Gebiete bei ihrem vermeintlichen Beschützer vorstellig werden.
Von vielen unbemerkt hat eine weitere prorussische Region auf dem Staatsgebiet Moldaus um "Schutz" gebeten: Gagausien (gesprochen: Gaga-usien). Regierungschefin Evghenia Guțul warf den moldauischen Behörden in russischen Staatsmedien vor, die Rechte der Gagausen zu unterdrücken. Die Regierung in Chișinău sei "Dirigent eines aufgezwungenen westlichen politischen Kurses".
Es gebe eine "massive Spaltung und Polarisierung zwischen prorussischen Bewegungen und der proeuropäischen Regierung" in der Republik Moldau, betont der Politikwissenschaftler und vor allem in Osteuropa tätige Risikoanalyst Hannes Meissner im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".
Autonomes Gebiet seit 30 Jahren
Gagausien besteht aus zwei größeren und zwei kleineren Teilen in der Republik Moldau, die nicht miteinander verbunden sind. Die autonome Region ist nur etwa doppelt so groß wie Berlin, aber mehr als halb so klein wie Transnistrien und macht etwa fünf Prozent des Staatsgebiets von Moldau aus. Rund 130.000 Menschen leben hier. Anders als in Transnistrien gab es Anfang der 1990er-Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion aber keinen Krieg. Ende 1994 wurde offiziell die "Autonome territoriale Einheit Gagausien" innerhalb der Republik Moldau gegründet.
Seitdem blieb es weitgehend ruhig in Gagausien, abgesehen von kleineren Konflikten. 2008 zum Beispiel, als die gagausische Regierung die prorussischen Separatistengebiete Abchasien und Südossetien in Georgien als unabhängige Staaten anerkannt hat, um Russland einen Gefallen zu tun.
Die gagausische Regierung beschwert sich jedoch immer wieder, dass die moldauische Regierung sie nicht genug unterstützt. Die Region hat wirtschaftliche Probleme, es gibt kaum Arbeit, deshalb müssen Zehntausende Gagausen den Großteil des Jahres über als Gastarbeiter in Russland ihr Geld verdienen.
Putin-Versprechen
Gagausien steht dem Kreml sehr nah und sieht Moldaus Nähe zur Europäischen Union kritisch. 2014 haben 98 Prozent der Bevölkerung Gagausiens für die Integration in die Zollunion mit Russland, Belarus und Kasachstan gestimmt, 97 Prozent waren gegen eine Annäherung an die EU.
Die gagausischen Gouverneurswahlen im März vergangenen Jahres haben für eine weitere Verstimmung gesorgt im Verhältnis zum moldauischen Mutterstaat. Evghenia Guțul, Kandidatin der Shor-Partei, gewann die Wahl. Der schwerreiche israelisch-moldauische Oligarch und Parteigründer Ilan Shor hatte sie unterstützt. In ihrer Siegesrede machte sie klar, dass sie Gagausien enger an Russland angliedern will.
Drei Monate später wurde die Shor-Partei in Moldau verboten - der Grund: Unterwanderung durch Russland. "Shor selbst ist wegen Massenbetrugs in den Jahren 2012 und 2014 zu 15 Jahren Haft in Moldau verurteilt worden. Er ist allerdings aus dem Land geflohen, entzieht sich der Haftstrafe. Er versucht aber nach wie vor, die Polarisierung Moldaus voranzutreiben, die Regierung Maia Sandus zu destabilisieren und das Land wieder zurück auf den prorussischen Kurs zu holen", sagt Osteuropa-Analyst Meissner.
Guțul trat ihr Gouverneursamt wegen des Parteiverbots im Juli als parteilose Kandidatin an. Wegen ihrer Mitgliedschaft in der Shor-Partei wird sie von Moldaus Präsidentin Sandu nicht als Regierungschefin Gagausiens anerkannt.
Bekannt wurde die 37-jährige Politikerin im Westen vor allem, weil sie Anfang dieses Monats auf Telegram ein Foto mit Wladimir Putin veröffentlichte und dazu schrieb, dass ihr der russische Präsident bei ihrem Gespräch im Rahmen des Weltjugendfestivals in Sotschi persönlich versprochen habe, "Gagausien bei der Verteidigung seiner Rechte, Befugnisse und Positionen auf der internationalen Bühne zu unterstützen".
"Drei Schlüsselthemen"
Die Anbindung an Russland könnte wie folgt aussehen: Die gagausische Regierungschefin habe bei ihrem Russland-Besuch mehrere Top-Beamte getroffen und mit ihnen über "drei Schlüsselthemen" gesprochen, schreibt das Institute for the Study of War (ISW). Es ging demnach um einen speziellen Gastarif für Gagausien, die Eröffnung von Konten für gagausische Unternehmen und Einzelpersonen innerhalb des russischen Mir-Zahlungssystems und um Details zu Verbrauchssteuern und Zöllen, damit Firmen aus Gagausien einfacher mit Russland Geschäfte machen können.
Moskau könnte mit Gagausien einen weiteren De-facto-Satellitenstaat auf dem Gebiet eines EU-Beitrittskandidaten schaffen. "Die Öffnung der russischen Märkte für Gagausien und die damit einhergehenden Steuervorteile sollen Moldau davon abhalten, aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) auszutreten", schreibt das ISW.
Die GUS ist ein Bündnis der ehemaligen Sowjetstaaten, aus dem Moldau als drittes Land aussteigen will - nach der Ukraine und Georgien. Außerdem könnten durch Russlands Vorgehen in Gagausien "Unstimmigkeiten in den wirtschaftlichen Beziehungen Moldawiens entstehen, die den Beitritt zur EU erschweren oder gar verhindern würden", analysiert der amerikanische Thinktank Jamestown Foundation.
Kostenloses Gas aus Russland?
Auch eigene Gaslieferungen für Gagausien würden es dem Mutterland Moldau schwerer machen, sich von Russland zu lösen. Moldau würde noch anfälliger für russische "Energieerpressungspläne", so das ISW. Das Land will eigentlich raus aus der jahrzehntelangen Abhängigkeit von russischer Energie. Wenn einzelne Separatistengebiete eigene Lieferungen erhalten, wird das aber kaum klappen. Das sieht man an Transnistrien: Das Separatistenland bekommt schon seit Jahrzehnten kostenlose Gastransfers von Russland. "Gaslieferungen waren immer schon eine Strategie der politischen Einflussnahme Moskaus", macht Meissner deutlich.
Hinzu kommt, dass Guțul ihren Einflussbereich offenbar nicht nur in den Grenzen von Gagausien sieht. Sie und Oligarch Shor wollen sich demnächst mit den Chefs der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei Moldawiens sowie der Partei der Moldauischen Wiedergeburt treffen: Igor Dodon, Vorsitzender der Sozialisten und Vorgänger der proeuropäischen Präsidentin Sandu. Dodon bildete zusammen mit den Kommunisten von Parteichef Wladimir Woronin 2021 ein Wahlbündnis im Parlament. Die Partei der Wiedergeburt ist wiederum mit der verbotenen Shor-Partei verbunden.
Gut möglich, dass Guțul an einer Pro-Russland-Koalition in Moldau arbeitet. Ende dieses Jahres sind Präsidentschafts- und nächstes Jahr Parlamentswahlen in der Republik. Das sind gute Aussichten für den Kreml. Dann wäre es noch einfacher, die Republik Moldau im eigenen postsowjetischen Einzugsbereich zu halten und den EU-Beitritt des Landes zu verhindern.
Auch die Türkei soll für "Schutz" sorgen
Doch auch die Türkei mischt in Gagausien mit. Die prorussische Region hat in Ankara ebenfalls um "Schutz" vor der Republik Moldau gebeten. Guțul sagte, die Türkei müsse Einfluss auf die moldauischen Behörden nehmen, damit der besondere Rechtsstatus der Region nicht verletzt werde.
Hintergrund für die Anfrage: Die Gagausen pflegen traditionell enge Beziehungen zu Ankara, gehören zur Gruppe der turksprachigen Völker. Die türkische Regierung um Präsident Recep Tayyip Erdogan besucht deshalb regelmäßig die Region, Gagausiens Regierungschefin machte ihre erste Auslandsreise voriges Jahr auch nicht nach Russland, sondern in die Türkei.
"Historisch-kulturell steht Gagausien zwischen Russen und Türkei. Es ist ein türkischstämmiges Volk mit einer orthodoxen Religion. In der jetzigen Situation haben sie ein politisches und sozioökonomisches Interesse an der Erhaltung des Status quo." Die Türkei habe in den vergangenen Jahren massiv in Gagausien investiert, vor allem im Bildungs- und Kultursektor, berichtet Meissner im Podcast.
Gagausien ist neben Transnistrien längst der zweite Staat im Staat auf dem Gebiet der Republik Moldau - ein zweiter Marionettenstaat für Russland, allerdings mit besonderen Beziehungen zur Türkei. Das macht die Lage für alle Beteiligten besonders kompliziert.
Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?
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Quelle: ntv.de