Sondierung gescheitert Schwarz-Grün ist nur vertagt
16.10.2013, 06:14 Uhr
Auf dem Weg zur Union: Roth, Hofreiter, Trittin.
(Foto: imago stock&people)
Die Grünen steigen aus den Gesprächen über ein Bündnis mit CDU und CSU aus. Haben sie sich kräftig verspekuliert? Oder womöglich nur äußerst geschickt mitgespielt?
Absperrungen markieren einen Pfad zum Haupteingang der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft. Die Aufmerksamkeit eines halben Dutzends Kameramänner ruht auf dem Weg. Jeden Moment muss die Verhandlungsdelegation der Grünen ihn passieren, bevor sie im Gebäude verschwindet. Eine Gelegenheit für ein paar Bilder, womöglich gar einen O-Ton. Doch die Teams der großen Fernsehsender und Nachrichtenagenturen starren vergeblich auf den Pfad.
Um 15 Uhr öffnet sich die Flügeltür des Haupteingangs. Die Grünen haben das Gebäude längst über den Hintereingang betreten. Die Parteivorsitzende Claudia Roth winkt den Teams der großen Fernsehsender aus sicherer Entfernung von innen zu, ruft ihnen ein kurzes "Huhu" entgegen und verschwindet mit ihren Kollegen von der Parteispitze in den Tiefen des Gemäuers. Die Grünen können tricksen, das zeigen sie schon kurz vor dem Beginn der zweiten Runde der Sondierungsgespräche mit der Union.
Eine intensive Verhandlungsrunde später, als die Nacht längst über Berlin hereingebrochen ist und Roth und ihr Amtsgenosse Cem Özdemir vor die Presse treten, um das Aus für Schwarz-Grün zu erklären, verstärkt sich dieser Eindruck. Gut möglich, dass die Grünen in den Sondierungsgesprächen geschickt gespielt und kräftig geblufft haben. Ihnen ist es gelungen, den Bruch eines Wahlversprechens zu verhindern und sich für die Zukunft trotzdem eine Regierungsoption jenseits von Koalitionen mit der SPD aufzubauen.
Ziellose Grüne?
Die Ausgangslage der Grünen war vertrackt. Während des Wahlkampfes hatten sie mit aller Vehemenz eine Koalition mit CDU und CSU ausgeschlossen. Die Angst, sie könnten mit schwarz-grünen Gedankenspielen Kernwähler verprellen, war groß. Ihr Credo lautete daher: Inhaltlich lägen die Parteien einfach zu weit auseinander. Als sich zeigte, dass es für eine rot-grüne Regierung nicht reicht, ließen sie sich dann aber trotzdem auf Sondierungsgespräche mit der Union ein. Als diese liefen, machten sie endgültig den Eindruck, als wüssten sie nach ihrer bitteren Niederlage bei der Bundestagswahl nicht mehr, was sie eigentlich wollen. Trotz ihrer so heraufbeschworenen inhaltlichen Vorbehalte formulierten sie keine konkreten Bedingungen für Schwarz-Grün. Nach der ersten Sondierungsrunde - sie dauerte kaum drei Stunden - hieß es allerseits nur: Man sei skeptisch. Den Gipfel der Ziellosigkeit erreichte das Hin und Her der Grünen dann aber scheinbar, als sie sich dennoch auf eine zweite Sondierungsrunde mit der Union einließen.
All das sah danach aus, als gelänge es CDU und CSU, die Unsicherheit der Grünen nach dem Wahldebakel auszunutzen, um die eigene Position im Buhlen um eine Koalition mit den Sozialdemokraten zu stärken. Nach der zweiten Runde der Sondierungsgespräche drängt sich allerdings eine andere Lesart der Geschehnisse auf: Vielleicht war das Hin und Her nur Teil eines Bluffs.
Ein neuer Ton
Schon Stunden vor der zweiten Runde der Sondierungsgespräche ändert sich der Ton der Grünen auf ein Neues. Von Bedenken ist plötzlich keine Rede mehr. Die neue Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt sagt "Spiegel Online", sie sei offen für "Überraschungen." Der neue Fraktionschef Anton Hofreiter spricht von einem "spannenden Modell Schwarz-Grün".
Nach der zweiten Runde der Sondierungsgespräche bemühen sich die Grünen, den Eindruck zu erwecken, dass sich die Union nun gewaltig auf sie zubewegt hätte. Zwar reichten die Annäherungen noch nicht aus, um ein gemeinsames Projekt zu wagen. Auf die grüne Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn, auf das grüne Modell einer Bürgerversicherung oder eine striktere Rüstungsexportpolitik habe sich die Union schließlich noch nicht eingelassen, heißt es. Doch bei vielen Fragen, etwa der doppelten Staatsbürgerschaft oder dem Umgang mit Flüchtlingen und Asylbewerbern in Deutschland, gebe es deutliche Fortschritte.
Die Grünen-Spitze ergeht sich bei dieser Feststellung geradezu in einer Lobeshymne. Und das wohl kaum zufällig. Die Parteivorsitzende Roth sagt: "Es waren schöne Gespräche." Mehrmals benutzt sie den Begriff "echte Offenheit" bei den Schwesterparteien. Özdemir nennt die Entwicklungen bei CDU und CSU einen "kulturellen Fortschritt". Und über das neue Verhältnis seiner Partei zur Union sagt er: "Die Tür ist offen und wird auch nicht mehr zugehen."
Der große Bluff
Dahinter könnte ein einfaches Kalkül stecken. Wegen ihrer harschen Rhetorik gegen Schwarz-Grün im Wahlkampf konnten sich die Grünen jetzt noch nicht auf dieses Bündnis einlassen. Der Schritt wäre einem Wahlbetrug gleichgekommen. In der ersten Phase der Sondierungen bestätigten die Grünen also die angeblich unüberbrückbaren Hindernisse für eine Koalition.
Spätestens seit dem 22. September ist den Grünen allerdings bewusst, dass es ihnen nichts nützt, eine Koalition mit der Union zu verteufeln - im Gegenteil. 2013 fehlte der Partei angesichts der schwachen SPD eine Machtoption. Dass praktisch keine Chance bestand, mitzuregieren, wirkte offenbar demobilisierend auf potenzielle Grünenwähler.
In der zweiten Sondierungsphase schafften die Grünen darum die Grundlage dafür, künftig ein Bündnis mit der Union einzugehen. Sie machen deutlich: Die Union bewegt sich. Bis zur nächsten Bundestagswahl lassen sich die inhaltlichen Differenzen zwischen den Parteien überwinden. Schwarz-Grün ist nicht gescheitert. Schwarz-Grün ist nur vertagt.
Quelle: ntv.de