Anschlag auf Tempel in den USA Sikhs mit Muslimen verwechselt?
06.08.2012, 10:56 Uhr
Die Polizei hüllt sich in Schweigen über die Motive des Angriffs auf einen Sikh-Tempel in den USA. Sie spricht aber von einer Terrorattacke. Die Sikhs vermuten dagegen, der Täter habe sie mit Muslimen verwechselt. Sie berichten von wachsender Abneigung seit den Anschlägen vom 11. September - und von einem entsprechenden Tattoo beim Täter.
Bei dem Blutbad in einem Sikh-Tempel in den USA könnte der Todesschütze seine Opfer nach Einschätzung von Angehörigen der Religionsgemeinschaft mit Muslimen verwechselt haben. "Jeder hier glaubt, dass es sich ganz bestimmt um ein Hassverbrechen handelt", zitierte die "New York Times" einen Sikh aus der Region namens Manjit Singh nach dem Massaker im Bundesstaat Wisconsin. "Die Leute glauben, wir sind Muslime."
Eine zweite Angehörige der Religionsgemeinschaft namens Ravi Chawla sagte dem Blatt zufolge, die meisten Menschen seien so ignorant, dass sie den Unterschied zwischen Religionen nicht kennen würden. "Nur weil sie einen Turban sehen, denken sie, man sei Taliban." Bei der Schießerei am Sonntag kamen sieben Menschen ums Leben, darunter auch der Attentäter. Drei Menschen, darunter ein Polizist, wurden schwer verletzt, zwei von ihnen schweben in Lebensgefahr.
Auch die Polizei rätselt nach der Schießerei in dem Sikh-Tempel in Oak Creek über das Tatmotiv. Die Behörden stufen das Blutbad bei ihren Ermittlungen als "eine Art heimischen Terrorismus" ein, wie der zuständige Polizeichef John Edwards am Sonntag mitteilte. Deshalb wurde das US-Bundeskriminalamt FBI eingeschaltet. Weitere Erkenntnisse erhoffen sich die Ermittler von der Durchsuchung der Wohnung des Täters. Nach Informationen des US-Senders CNN war der Täter ein Armee-Veteran.
Trug der Täter ein 9/11-Tattoo?
Zeugen sprachen von einem großen, kahlköpfigen, weißen Mann, der am Sonntag in die Küche des Gemeindekomplexes eingedrungen sei und um sich geschossen habe. Er wurde dann von einem Polizisten erschossen. Der etwa 40 Jahre alte Todesschütze soll eine Tätowierung getragen haben, die auf die von muslimischen Extremisten verübten Anschläge vom 11. September 2001 hinweisen. "Er war tätowiert", bestätigte ein Sprecher der für die Verfolgung von Schusswaffendelikten zuständigen Ermittlungsbehörde ATF. Er wisse aber nicht, ob sich aus dem Tattoo auf das Tatmotiv schließen lasse.
Der Täter habe mit einer halbautomatischen Neun-Millimeter-Pistole um sich geschossen, ergänzte der ATF-Sprecher. Laut Fernsehsender CNN soll der Schütze früher Soldat gewesen sein. Edwards zufolge ist sich die Polizei zunehmend sicher, dass es sich um einen Einzeltäter handelte.
Viele männliche Sikhs tragen einen Turban und einen ungestutzten Bart, womit sie an strenggläubige Muslime erinnern können. Die "New York Times" berichtete, zwar seien vor dem Massaker keine gewaltsamen Übergriffe gegen Sikhs in Wisconsin bekannt gewesen. Angehörige der Gemeinschaft berichteten aber von wachsender Abneigung seit den Anschlägen vom 11. September 2001. Sie vermuteten, das hänge damit zusammen, dass Sikhs irrtümlich für Muslime gehalten worden seien.
"Wir sind doch friedliebende Menschen"
Ein Gemeindemitglied äußerte sich fassungslos über die Bluttat. "Warum?" fragte er. "Wir sind doch friedliebende Menschen. Wir achten unsere Mitmenschen." Dutzende Angehörige der Sikh-Gemeinde in der 35.000-Einwohner-Stadt versammelten sich nach Bekanntwerden der Bluttat in der Nähe des abgesperrten Tempels und warteten unruhig auf Nachrichten von ihren Angehörigen. "Unser Priester ist tot. Ein Großvater meines Freundes ist tot. Es ist eine sehr enge Gemeinschaft. Egal, wer getroffen ist - wir sind alle eine Familie", sagte der 22-jährige Harinder Kaur.
US-Präsident Barack Obama bekundete "tiefe Trauer" und Anteilnahme. In einer in Washington veröffentlichten Erklärung bot er zugleich Hilfe der Bundesbehörden bei der Aufklärung der Bluttat an und würdigte die Rolle der Sikhs im amerikanischen Leben. Sie seien eine Bereicherung für das Land und "ein Teil unserer erweiterten amerikanischen Familie", erklärte Obama. Auch sein republikanischer Herausforderer bei der Wahl im November, Mitt Romney, verurteilte den "sinnlosen Akt der Gewalt".
Indiens Premierminister Manmohan Singh zeigte sich "zutiefst schockiert und traurig" über den Anschlag. Die Tatsache, dass eine religiöse Kultstätte angegriffen worden sei, sei "besonders schmerzhaft", erklärte Singh, der selbst ein Sikh-Anhänger ist, in Neu Delhi. Er appellierte an die zuständigen Behörden, alles dafür zu tun, dass sich solche "gewalttätigen Akte" nicht wiederholten. Auch andere religiöse Führer und Politiker in Indien reagierten bestürzt. Es handele sich um einen furchtbaren Vorfall, der alle Sikhs sehr betroffen mache, sagte Avtar Singh, dessen Stiftung den heiligsten Schrein der Sikhs, den Goldenen Tempel in Amritsar, verwaltet.
US-Regierung soll besser aufklären
Manjit Singh, der Vorsitzende der Sikh-Partei kündigte eine friedliche Versammlung vor der US-Botschaft in Neu Delhi an. Er forderte die US-Regierung auf, ihre Bürger besser über die verschiedenen Religionen aufzuklären, "damit so etwas nie wieder passiert". Zugleich dankten Singh und andere Politiker der Polizei von Wisconsin für ihren entschlossenen Einsatz.
Die Sikh-Religion ist mit mehr als 30 Millionen Anhängern die fünfgrößte der Welt. Der monotheistische Glaube hat seinen Ursprung im 15. Jahrhundert in Nordindien. In den USA leben schätzungsweise 500.000 Sikhs. Im September 2001 wurde im Bundesstaat Arizona ein Sikh von einem Mann erschossen, der nach eigenen Angaben Rache für die Anschläge der radikal-islamischen Al-Kaida üben wollte. Der Direktor der Bürgerrechtsgruppe Sikh Coalition berichtete am Sonntag von mehreren Angriffen auf Sikhs im vergangenen Jahr. Im jüngsten Fall gehe man daher zunächst von einem ähnlichen Hintergrund aus.
Es ist der zweite derartige Vorfall mit zahlreichen Toten innerhalb weniger Tage in den USA. Vor etwa zwei Wochen stürmte ein Mann ein Kino im Bundesstaat Colorado und erschoss zwölf Menschen. Während in der Presse nach dem Angriff über strengere Waffengesetze diskutiert wurde, gab es weder breit angelegte politische Vorstöße noch größere Gesetzesänderungen.
Studien zufolge haben Amokläufe in den USA kaum Auswirkungen auf die öffentliche Meinung. Einer Erhebung des Pew Research Center vom Juli zufolge waren nach dem Massaker in Colorado zwar 47 Prozent der US-Bürger für strengere Waffengesetze. 46 Prozent fanden es jedoch wichtiger, das Recht des Bürgers auf den Besitz einer Schusswaffe zu schützen. Die Zahlen waren im Vergleich zu einer Studie im April kaum verändert. Zwei Drittel der Befragten bewerteten im Juli Amokläufe als isolierte Vorfälle, die von gestörten Einzelpersonen verübt werden.
Quelle: ntv.de, dpa/AFP