Politik

Interview mit Peter-Michael Diestel "So etwas gibt es eigentlich nur im Märchen"

Freude auf westlicher Seite am Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990.

Freude auf westlicher Seite am Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990.

(Foto: picture alliance / dpa)

Peter-Michael Diestel ist Mitglied der CDU und hat die deutsche Einheit als Innenminister der DDR-Regierung mitgestaltet. Zeitweilig war Diestel auch Präsident des FC Hansa Rostock. Heute ist er Staranwalt. Jüngst hat er in dem Buch "Diestel – Aus dem Leben eines Taugenichts?" seine Erinnerungen aus jener Zeit veröffentlicht.

ntv.de: Herr Diestel, in Ihrem Buch spüre ich eine ganze Menge Herzblut. Schauen Sie mit Wehmut auf die Wende zurück?

Peter-Michael Diestel: Nein. Die Wende ist der Höhepunkt meines Lebens. Der liebe Gott hat mich in ein extremes Abenteuer geschickt. Ich war ein guter Schüler und später ein guter Student, aber ich war parteilos, nie in irgendeine Struktur eingebunden. Dann wurde ich von der Straße weggefangen und war plötzlich Innenminister und stellvertretender Ministerpräsident. So etwas gibt es eigentlich nur im Märchen. Und das in einer Zeit, in der in meinem Vaterland – und die DDR war ja mein Vaterland – zum ersten Mal frei gewählt werden konnte. Von 1933 bis 1990 gab es keine freien Wahlen.

Die Landtagswahlen in der Sowjetischen Besatzungszone und die Wahlen zur Berliner Stadtverordnetenversammlung 1946 waren frei, DDR-weit später nicht.

Manfred Bleskin im Gespräch mit Peter-Michael Diestel.

Manfred Bleskin im Gespräch mit Peter-Michael Diestel.

Das sag‘ ich ja. Es war ein erhebendes Gefühl, in meinem Vaterland an die zweite Stelle gewählt zu werden. Wehmut spüre ich in dem Sinne, dass es eine schöne Zeit war. Was mich aber wirklich wehmütig macht, ist, dass viele Menschen nicht mit dem seither Erreichten zufrieden sind, dass sie meckern, jammern und vergessen, wie schön es doch ist, heute von Berlin nach Köln, von Rostock nach München, von Hamburg nach Görlitz fahren zu können.

Alle Welt spricht über den Euro, die einen lehnen ihn ab, die anderen verteidigen ihn. Immer wieder wird kolportiert, dass die Einführung der Gemeinschaftswährung der Preis für die deutsche Einheit war, den Helmut Kohl an François Mitterrand zahlen musste. Ist Ihnen damals etwas davon zu Ohren gekommen? Oder ist das eine Sage?

Das ist nicht nur eine sage, das ist falsch. Da gibt es keinen Zusammenhang. Die Ostdeutschen, und nur sie, haben die deutsche Einheit erstritten, als sie die Mauer eintraten, mit einem undisziplinierten, aber sehr kraftvollen historischen Tritt. Als die Grenze dann offen war, die Mauer am Boden lag, hätte sich niemand – weder Herr Mitterrand noch Frau Thatcher – erlaubt, die Mauer wieder aufzurichten. Euro gegen Einheit – das ist eine Mär. Aber natürlich hat die deutsche Einheit zwangsläufig zu einer Vertiefung der europäischen Einheit geführt.

Die Deutsche Soziale Union (DSU), die Sie mitbegründet haben, sollte – wenn ich‘s recht verstehe – eine Art CSU in den neuen Ländern werden. Wer hatte die Idee, woran ist das Projekt gescheitert?

Die Idee stammte vom damaligen Pastor der Leipziger Thomaskirche, Hans-Wilhelm Ebeling, und mir. Wir beide waren große Fans von Franz-Josef Strauß, den ich heute noch verehre. Die CSU ist eine große, gut organisierte Volkspartei. Wir haben die DSU aus Bewunderung für die Verhältnisse in Bayern und die CSU bewusst als deren Schwesterpartei im Osten gegründet. Die DSU ist aber nicht gescheitert. Wir haben die DSU ganz bewusst in die Allianz für Deutschland (Wahlbündnis aus CDU, DSU und Demokratischem Aufbruch, M.B.) geführt, weil wir die Wahlen gewinnen wollten. Der pragmatische Teil der DSU war dann mit politischen Aufgaben bei der Herstellung der Einheit beschäftigt. In neue Parteien treten aber auch Chaoten, Querulanten und Rechtsradikale ein, die mitgestalten wollen. Ebeling und mir, die wir verantwortungsvolle Positionen innehatten, ist die Partei einfach nach Rechtsaußen entglitten, hat mit rechtsradikalen Parteien Kontakt aufgenommen. Das entsprach nicht mehr mit den Vorstellungen, die wir bei der Gründung verfolgt hatten. Folgerichtig sind wir dann im Juli 1990 ausgetreten.

Ich komme noch einmal auf die Bilanz der Einheit zurück. Sie haben 1992 zusammen mit der leider viel zu früh verstorbenen Rocksängerin Tamara Danz und Gregor Gysi die Komitees für Gerechtigkeit gegründet. Was war denn ungerecht damals?

Diestel (r) trat bei der Landtagswahl im Oktober 1990 in Brandenburg an und unterlag Manfred Stolpe (l).

Diestel (r) trat bei der Landtagswahl im Oktober 1990 in Brandenburg an und unterlag Manfred Stolpe (l).

(Foto: picture-alliance / dpa)

Ungerecht war, dass man den Ostdeutschen den großen Sieg streitig gemacht hat. Die Art und Weise, wie mit den in der DDR politisch Verantwortlichen umgegangen wurde, halte ich für einen der Fehler im Prozess des Zusammenwachsens unseres deutschen Vaterlandes. Die Idee zur Gründung der Komitees hatte Stefan Heym, den ich für einen der größten Dichter und Politiker Deutschlands halte. Diese Komitees haben ja manchen aufgerüttelt …

… als Heym aber 1994 als Alterspräsident des Bundestages, er war ja für die PDS angetreten, die Eröffnungsrede der 13. Legislaturperiode hielt, haben die Abgeordneten ihn brüskiert und den Saal verlassen.

Helmut Kohl und die anderen haben den Sitzungssaal wohl nicht verlassen, aber sie sind nicht aufgestanden. Die Rede abgelehnt zu haben, betrachten Helmut Kohl und viele andere in der CDU heute als großen politischen Fehler. Diese Rede würde heute jeder Abgeordnete des Bundestages unterschreiben können, wenn er ein Demokrat ist.

Viele der Akteure von damals sind – neben Angela Merkel - heute noch aktiv. Einer davon ist sogar Bundespräsident. Mit Herrn Gauck hatten Sie mal Probleme, wie aus Ihrem Buch hervorgeht. Wie stehen Sie heute zu ihm?

Wir haben uns in den Wendemonaten kennengelernt, dann zusammengearbeitet, aber frühzeitig festgestellt, dass wir aufgrund unserer identischen Struktur nicht für eine dauerhafte Zusammenarbeit geeignet sind. Wir haben uns dann politisch sehr stark auseinandergesetzt. Was Herr Gauck bis zur Wende politisch zu verantworten hatte, ist völlig legitim. Das war eine ganz durchschnittliche, aufrechte DDR-Biographie. Sein politisches Wirken an der Spitze einer Behörde, die die Reste eines Geheimdienstes verwaltet, hat die Menschen in Gute und Böse geteilt. Das lehne ich bis auf den Tag strikt ab. Die unterschiedliche politische Haltung hat dazu geführt, dass wir uns auch persönlich angegriffen haben. Die Prozesse habe ich erfolgreich gestaltet. Dann habe ich in Anbetracht unserer einstigen Zusammenarbeit den Frieden gesucht, der bis heute hält. Gauck unterscheidet sich heute löblich von seinen beiden Vorgängern.

Ihr Vater war Offizier der Nationalen Volksarmee der DDR, ich denke, da hat Religion keine große Rolle gespielt. Sie sind heute in einer Partei, die das C im Namen führt.

Im Gegenteil. Religion hat eine große Rolle gespielt. Meine Mutter war evangelisch und streng religiös. Mein Vater war im Zweiten Weltkrieg Offizier, später Mitglied des Bundes Deutscher Offiziere und des Nationalkomitees "Freies Deutschland" und hat sich zum Atheisten entwickelt. Meine vier Brüder und ich aber sind Christen. Wir haben in der DDR an der Christenlehre teilgenommen und die Konfirmation erhalten. Wir sind geprägt durch das christliche Menschenbild.

Martin Lohmann, bislang Bundestagsabgeordneter der CDU, ist jetzt kurz vor den Wahlen nach 40 Jahren Mitgliedschaft aus der Partei ausgetreten. Seine Begründung: Die CDU trägt das C nicht mehr zu Recht. Wie sehen Sie das?

Herr Bleskin, das ist die schwierigste Frage, die Sie mir stellen können (lacht). Ich finde jeden Tag hundert Begründungen dafür, dass die CDU das C nicht mehr im Namen tragen kann. Und jeden Tag finde ich auch hundert Begründungen, warum sie das C zu Recht trägt. Die CDU ist genauso menschlich kompliziert und in sich zerstritten, wie es der einzelne Mensch auch ist. Trotzdem würde ich mich nie von dem C trennen. Und wenn meine Partei meint, das Christliche wäre nicht mehr opportun, dann wäre ich nicht mehr in dieser Partei. Man muss aber einen Maßstab haben, an dem man gemessen werden kann, und der einem sagt, in diesem Jahr kann ich meine Partei nicht wählen, weil sie sich in dieser oder jener Frage, der Frage des Krieges beispielsweise, nicht christlich verhält. Aber das C steht dafür, dass man sich in christlichen Proportionen bewegt. Das C ist ein sehr hoher Anspruch. Deshalb bin ich gern in der CDU.

Gibt es aus der Wendezeit irgendein Geheimnis, das Sie bislang nicht preisgegeben haben? Jetzt wäre Gelegenheit dazu.

Ich habe sehr viele Geheimnisse. In rechtlichen Konflikten bin ich oft versucht, ein Geheimnis offenzulegen, um den Mandanten zu helfen. Das mache ich aber nicht. Ich weiß, dass es sich um Herrschaftswissen handelt, das ich mir damals angeeignet habe. Aber ich möchte nicht in den Geruch eines Verräters kommen. Viele wissen, dass Diestel dieses Wissen hat und fühlen sich bedroht. Ich habe dieses Wissen aber ordentlich gebunkert, sicher hinterlegt. Das Wissen wird mit mir dann irgendwann einmal den Weg alles Irdischen gehen.

Wann steigt Hansa Rostock wieder in die Bundesliga auf?

Wenn es wieder ein ordentliches Team an der Spitze gibt. Und wenn diese vielen provinziellen Dummköpfe, die bei Hansa Rostock seit zehn Jahren an der Spitze stehen, gehen. Wenn es wieder Menschen an der Spitze gibt, die untypische Wege gehen. Das Potenzial ist vorhanden, die Wirtschaft ist zur Unterstützung bereit.

Mit Peter-Michael Diestel sprach Manfred Bleskin.

Quelle: ntv.de

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