Schwarmfahndung statt Schlapphut-Mentalität So gingen die Boston-Attentäter ins Netz
22.04.2013, 16:06 Uhr
Am Ende finden die Fahnder Dschochar Zarnajew in einem Boot. Er ist schwer verwundet.
(Foto: picture alliance / dpa)
Am Tag nach den Bomben von Boston geben die US-Behörden zu: Wir haben keine heiße Spur zu den Tätern. Mehrmals bitten FBI und Polizei die Öffentlichkeit um Hilfe. Die ungewöhnliche Fahndung im Schwarm bringt schnell Ergebnisse. Und zeigt, wie Ermittler in Zukunft arbeiten könnten.
Das Attentat beim Zieleinlauf des Bostoner Marathons war nur ein Teil der geplanten Anschläge, sagen Ermittler. Sehr wahrscheinlich hätten die beiden Männer tschetschenischer Herkunft weitere tödliche Aktionen geplant. Sprengstoff und Waffen hatten sie dafür. Zwei Männer sind nun gefasst – der eine, Tamerlan Zarnajew, ist tot, sein Bruder und Komplize Dschochar liegt verwundet im Krankenhaus.
Dass die Behörden weniger als eine Woche brauchten, um eine solche Aussage über mögliche weitere Taten machen zu können, hat wohl auch mit einem Eingeständnis zu tun: Traditionelle Ermittlungsmethoden unter dem Mantel der Verschwiegenheit sind in diesem Fall nicht ausreichend. Und womöglich auch nicht angemessen.
Denn als am Tag nach dem Attentat die Suche in vollem Maße beginnt, tappen die Ermittler im Dunkeln. Es gibt kein Bekennerschreiben und keine heiße Spur. Die Täter sind auf freiem Fuß. Und alle Welt weiß es. Vorsichtig heißt es von den US-Behörden: Die Jagd nach den Verantwortlichen wird Zeit brauchen. Ein Hinweis darauf, wie es um die Erkenntnisse steht.
Ein Beweisstück als Basis
Wie kam es trotzdem zum relativ schnellen Erfolg? "Das ist die moder ne Verbrecherjagd", titelt "Wired" nach deren Ende. Das Magazin beschreibt, wie die Öffentlichkeit einbezogen wurde. Und wie dies die Spur der Täter erst sichtbar machte.
"Ohne die Kameras wüsste ich nicht, wo wir jetzt wären", wird Mike Rolince zitiert, ein ehemaliger Spezialagent des FBI. Allerdings sprach Relince von den Geräten der Zuschauer am Copley Square, nicht den Überwachungskameras der umliegenden Gebäude. Die Fotos und Videos von Privatpersonen aus dem Zeitraum vor den zwei tödlichen Explosionen waren für die Ermittler immens wichtig.
Ein Problem der Behörden war, dass sich Tausende Menschen am Platz des Verbrechens aufhielten, von dort flohen - und so eventuelle Beweise vernichteten oder veränderten. Um an mehr Material zu kommen, stellt das FBI am Tag nach den Taten eine Website online, wo jeder seine Inhalte hochladen kann. Fotos, die sonst auf Flickr oder Instagram landen; Filmaufnahmen, die ursprünglich für private Zwecke oder Plattformen wie Youtube und Vine gedacht waren.
Tausende Bilder und Videos
Es ist ein ungewöhnlicher Schritt für die Behörde, deren Selbstverständnis eine entscheidende Mithilfe von Privatpersonen eigentlich nicht einschließt. "Die ultimative Herausforderung bei Ermittlungen ist, wenn niemand sonst deine Informationen hat", so Rolince über die Schlapphut-Mentalität des FBI.
Die neue Offenheit trägt Früchte: Innerhalb von zwei Tagen gehen tausende Videos und Fotos über das Online-Tool ein, alle mit anderen Perspektiven auf den Copley Square. Ermittler sortieren die Bilddokumente nach Entstehungszeitpunkt. Eine Dokumentation aus unterschiedlichen Blickwinkeln entsteht, in der FBI und Polizei nach verdächtigem Verhalten von Personen Ausschau halten – und finden.
Wie das genau geschah, darüber spricht zwar niemand. Jedoch heißt es aus Ermittlerkreisen, neben den Bildern hätten sich die Behörden unter anderem auch auf Mobilfunkdaten gestützt. Sicher ist: Ein zentrales Beweisstück am Tatort ist ein zerfetzter Rucksack. Also suchen die Ermittler den vermutlichen Träger auf den Bildern. Sie finden zwei Verdächtige, von denen das FBI am Donnerstag ein Video und Fotos ins Netz stellt. Wieder soll die Öffentlichkeit helfen. Die Aufnahme wurde seither rund 19 Millionen Mal abgerufen.
Männer ohne Namen
Namen haben die beiden Attentäter da noch nicht. Es ist von "Verdächtiger 1" und "Verdächtiger 2" die Rede. Die Zarnajew-Brüder sind in Aufnahmen der Überwachungskameras des Bekleidungsgeschäftes "Lord & Taylor" zu sehen, beide mit Rucksäcken. "Sie scheinen in Verbindung zu stehen", heißt es vom FBI. Das Federal Bureau bezeichnet die Gesuchten als "bewaffnet und extrem gefährlich". Trotzdem setzen die Ermittler auf externe Hilfe: "Irgendjemand da draußen kennt diese Individuen als Freunde, Nachbarn, Kollegen oder Familienmitglieder", und diese sollen sich umgehend bei der Polizei oder dem FBI melden, heißt es.
Der Strom der Bilder reißt danach nicht ab. Im Gegenteil, er nimmt zu, da nun alle wissen, nach welchen Kriterien sie Personen auf ihren Aufnahmen suchen müssen. Es ist eine Ermittlung im Schwarm, eine von den Medien verstärkte, indirekte Verfolgungsjagd. Die Polizei begleitet die Hatz über ihr Twitter-Konto. Die ungewöhnliche Redseligkeit über den Stand der Ermittlungen bringt den Behörden Vertrauen ein – und womöglich Hinweise über die Täter. Inzwischen hat das Konto der Bostoner Polizei über 330.000 Abonnenten. Kurz vor der Festnahme von Dschochar Zarnajew waren es noch über ein Drittel weniger.
Auch den Erfolg ihrer offenen Strategie teilt die Bostoner Polizei online mit. Am Freitag um 20.58 Uhr Ortszeit (Samstag, 2.58 Uhr MESZ) twittert die Behörde: "GEFASST!!! Die Jagd ist vorbei. Die Suche ist abgeschlossen. Der Terror ist vorbei. Und die Gerechtigkeit hat gesiegt. Verdächtiger in Haft."
Modell für die Zukunft?
Ist die Offenheit der Behörden ein Modell für die Zukunft? Ist diese Methode der Strafverfolgung auch in anderen Fällen anwendbar und effektiv? Darüber werden FBI und Polizei bestimmt diskutieren. Was von den Attentaten in Boston zunächst bleiben kann, ist mehr Vertrauen der Bürger in ihre Behörden; die Erkenntnis, was freiwillige Mithilfe bewirken kann – sowie das Wissen, dass so womöglich weitere Anschläge verhindert worden sind. Noch immer ist das Online-Formular nutzbar.
Quelle: ntv.de