Windparks und Kabel im Visier So operiert Russlands geheime Spionageflotte in der Nordsee
02.05.2023, 08:53 Uhr Artikel anhören
Schwerbewaffnete Männer wie dieser bewachen die "Admiral Wladimirsky", ein Forschungsschiff, das eigentlich nicht militärischen Zwecken dient.
(Foto: DR/Morten Krüger)
Mindestens 50 zivile Schiffe aus Russland halten sich mit ausgeschalteten Transpondern auffallend oft in der Nähe europäischer Offshore-Windparks, Strom- und Datenkabel auf. Nordeuropäische TV-Sender berichten von einer geheimen Flotte, die kritische Infrastrukturen ausspioniert.
Ein maskierter Mann steht mit kugelsicherer Weste auf einem Schiff. Mitten im Kattegat, dem Übergang von Nord- und Ostsee zwischen Dänemark und Schweden. Der Mann trägt ein Gewehr bei sich und blickt von der Reling herab auf Reporter nordeuropäischer Fernsehsender, die sich dem riesigen Schiff mit einem Motorboot genähert haben. "Scheiße, das Gewehr ist doch nicht gegen uns gerichtet, oder?", fragt einer der Journalisten seine Kollegen. Mit dieser Szene beginnt eine Reportage der öffentlich-rechtlichen TV-Anstalten aus Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland.

Die "Admiral Wladimirsky" wurde 1975 vom Stapel gelassen und dient Russland offiziell nur als Forschungsschiff zur Meeresbeobachtung.
(Foto: DR/Morten Krüger)
Das riesige Schiff, das sich die Reporter anschauen, ist die "Admiral Wladimirsky". Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums handelt es sich um ein Forschungsschiff, das für Meeresbeobachtungen konzipiert worden ist. Die Aufnahmen und Recherchen der nordeuropäischen Rundfunkanstalten legen aber eine ganz andere Aufgabe nahe. Demnach ist das Schiff auf geheimer Spionagemission unterwegs.
Die nordischen Reporter behaupten, dass es sich bei der "Admiral Wladimirsky" um eines von mindestens 50 russischen Schiffen handelt, die getarnt als Forschungsschiff oder Fischtrawler vor allem in der Nordsee unterwegs und in den vergangenen zehn Jahren mehrfach mit "verdächtigem Fahrverhalten" aufgefallen sind. So beschreibt es der Dänische Rundfunk (DR) nach Gesprächen mit Experten und Geheimdienstlern.
Die Schiffe kartieren demnach europäische Offshore-Windparks, Gaspipelines, Strom- und Internetkabel. Laut der nordischen TV-Sender sind sie mit Unterwasser-Überwachungsgeräten ausgestattet und suchen nach möglichen Standorten für Sabotageakte.
Militärfunkgeräte im Fischtrawler
Anfang November hatte die norwegische Polizei zwei russische Fischereischiffe in Kirkenes kurz vor der norwegisch-russischen Grenze routinemäßig kontrolliert. In abgeschlossenen Räumen der angeblichen Fischtrawler "Lira" und "Ester" entdecken die Beamten versteckte Militärfunkgeräte und einen daneben sitzenden Mann, der offenbar nicht entdeckt werden wollte. Die beiden Schiffe sollen zuvor vor den Färöer-Inseln gefischt haben. Die zum Königreich Dänemark gehörende, aber autonome Inselgruppe hat nach wie vor ein Fischerei-Abkommen mit Russland.
Von Geheimdienstquellen haben die Reporter der nordischen Sender abgehörte Funksprüche der russischen Marine bekommen. So konnten sie hinter die Fassade der Forschungsschiffe und Fischtrawler blicken. Eine der Quellen, ein ehemaliges Mitglied der britischen Royal Navy, ist sich sicher: Die Flotte soll europäische Infrastruktur nicht nur kartieren, sondern im Fall der Fälle auch angreifen. "Ich meine, was würde passieren, wenn in ganz Kopenhagen der Strom ausfällt oder wenn es einen Blackout an der Londoner Börse gibt?", fragt der Experte rhetorisch.
"Im Falle eines Konflikts mit dem Westen sind sie bereit und wissen, wo sie zuschlagen müssen, wenn sie die dänische Gesellschaft lahmlegen wollen", macht auch Anders Henriksen, Leiter der Spionageabwehr beim dänischen Geheimdienst, gegenüber dem DR deutlich.
"Eine einzige Bombe kann Windpark zerstören"
In der Doku wird berichtet, dass die russischen Schiffe in den vergangenen Jahren zum Beispiel plötzlich in der Nähe von NATO-Übungen wahrgenommen wurden, als sie tief in Binnenfjorde gefahren sind, ohne Häfen anzulaufen, oder wenn sie merkwürdig oft wichtige Seekabel-Trassen gekreuzt haben.
Allerdings fielen die zwielichtigen Schiffe nicht auf dem Radar auf: Um unerkannt zu bleiben, hatten die Schiffe ihre Positionstracker ausgeschaltet. Stattdessen wurden die Standorte regelmäßig per Funkspruch an einen russischen Marinestützpunkt übermittelt. Den Geheimdiensten der nordeuropäischen Länder ist es gelungen, die Kommunikation der Geisterschiffe abzufangen und abzuhören - so konnte beispielsweise die geheime Reise der "Admiral Wladimirsky" nachgezeichnet werden.
Demnach hat das 150 Meter lange Schiff am 1. November Sankt Petersburg verlassen und am 10. November die Nordküste von Schottland erreicht. Dort befinden sich zwei große Offshore-Windparks, die mehr als eine Million Menschen mit Strom versorgen. Zwei Tage lang blieb die "Wladimirsky" vor Ort, bis sie ein paar Seemeilen Richtung Süden fuhr, wo derzeit der in Zukunft größte Offshore-Windpark von Schottland und Großbritannien gebaut wird. Auch hier trieb das russische Schiff zwei Tage beinahe regungslos im Wasser. "Das Schiff hat wahrscheinlich Stromkabel auf dem Meeresboden in der Nähe der Offshore-Windparks kartiert. Es wird Bündel von Kabeln geben, bei denen eine einzige Bombe den gesamten Windpark zerstören kann", analysiert der Marineanalyst H. I. Sutton in der Doku der nordischen Medien DR, NRK, SVT und Yle.
Im Anschluss setzte das Schiff seine Reise nach Süden fort. Bei London befinden sich an der Mündung der Themse ebenfalls zwei große Windparks. Nach einem Tag langsamer Fahrt vor England drehte die "Wladimirsky" um und fuhr zurück in den schottischen Teil der Nordsee und von dort aus vorbei an zwei dänischen Ölfeldern ins Kattegat. Dort, zwischen Dänemark und Schweden, entsteht momentan ein dänischer Offshore-Windpark, den die "Admiral Wladimirsky" offensichtlich ebenfalls einige Tage unter die Lupe nahm, bevor sie weiter in Richtung Heimat fuhr und am 30. November in den Hafen der russischen Exklave Kaliningrad einlief.
Spionage auch vor niederländischer Küste?
Es war offenbar nicht die erste Spionage-Tour der "Wladimirsky". Im Herbst vergangenen Jahres wurde sie auch vor der belgischen und niederländischen Küste in der Nordsee gesehen. "Russische Schiffe haben versucht, unsere kritischen Infrastrukturen auszuspionieren. Aber wir haben die Küstenwache herausgeschickt und die hat die Schiffe weg eskortiert. Die Spionage der Russen war nicht erfolgreich, aber es gab entsprechende Versuche", kommentierte Jan Swillens, Chef des niederländischen Militärgeheimdienstes.
Warum gerade die Infrastruktur auf See so wichtig ist, zeigen Vorfälle aus dem vergangenen Jahr. Anfang 2022 wurde ein Glasfaserkabel zwischen der norwegischen Inselgruppe Spitzbergen und dem Festland durchtrennt. Das Kabel versorgte die weltweit größte kommerzielle Bodenstation für Satellitenkommunikation. Die norwegische Polizei geht von Sabotage aus, offiziell beschuldigt wurde aber niemand.
Der offensichtlichste und bekannteste Fall, in dem wichtige Infrastruktur sabotiert wurde, ist die Zerstörung der Nord-Stream-Pipeline im September. Zu Beginn wurde Russland beschuldigt, für die Sprengung der Gasröhre verantwortlich zu sein. Zwischenzeitlich kamen Berichte auf, wonach es auch pro-ukrainische Akteure gewesen sein könnten. Aber auch daran wurden Zweifel laut. Zuletzt hat das dänische Militär Fotos veröffentlicht, die belegen, dass vier Tage vor den Explosionen ein russisches Spezialschiff mit Mini-U-Boot an Bord ganz in der Nähe der Pipeline unterwegs gewesen ist.
Am 30. Juli vorigen Jahres hat Russland zum Tag der Marine seine Marinedoktrin überarbeitet. Zur Wahrung nationaler Interessen sollen im Kriegsfall auch zivile Schiffe in die Seestreitkräfte eingegliedert werden können. Von Fracht- und Forschungsschiffen bis hin zu Fischtrawlern darf somit alles, was sich auf dem Meer bewegt, eingesetzt werden. Die mutmaßlichen Sabotageakte sind womöglich ein erster Vorgeschmack.
"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein bisschen schlauer.
Alle Folgen finden Sie in der ntv App, bei RTL+, Apple Podcasts und Spotify. "Wieder was gelernt" ist auch bei Amazon Music und Google Podcasts verfügbar. Für alle anderen Podcast-Apps können Sie den RSS-Feed verwenden.
Sie haben eine Frage? Schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an podcasts@ntv.de
Quelle: ntv.de