Politik

Flüchtlingswelle in den Irak "Syrer wandern hunderte Kilometer"

Die Syrer, die an der irakischen Grenze ankommen, haben nach langer Odyssee meist nur ein paar Bündel dabei.

Die Syrer, die an der irakischen Grenze ankommen, haben nach langer Odyssee meist nur ein paar Bündel dabei.

(Foto: picture alliance / dpa)

Bei einer Massenflucht überqueren im September mehr als 60.000 Syrer die irakische Grenze. Selbst Familien mit kleinen Kindern unternehmen diese hunderte Kilometer lange Odyssee durch Wüstegebiete. Der Vorsitzende von Ärzte ohne Grenzen, Tankred Stöbe, berichtet im Gespräch mit n-tv.de vom Hilfseinsatz an der syrisch-irakischen Grenze.

Direkt hinter dem Grenzübergang erhalten die syrischen Flüchtlinge erste Hilfe.

Direkt hinter dem Grenzübergang erhalten die syrischen Flüchtlinge erste Hilfe.

(Foto: MSF)

n-tv.de: Sie waren gerade vier Wochen lang an der syrisch-irakischen Grenze, um Kriegsflüchtlinge medizinisch zu behandeln. Welche Situation haben Sie vorgefunden?

Tankred Stöbe: Wir haben am Dreiländereck von Irak, Syrien und der Türkei die größte Fluchtbewegung seit Beginn des Krieges erlebt. Die Grenze war monatelang geschlossen. Als sie öffnete, gab es eine Massenflucht von 60.000 Syrern in den kurdischen Teil des Iraks.

Die Grenze zum Irak ist am weitesten entfernt von den dichtbesiedelten Gebieten Syriens. Zudem müssen die Flüchtlinge große Wüstenabschnitte durchqueren. Wer tut sich das an?

Ärzte ohne Grenzen in Syrien

Ärzte ohne Grenzen ist eine 1971 in Frankreich gegründete internationale Hilfsorganisation. 1999 wurde ihr der Friedensnobelpreis verliehen.

In Syrien betreibt Ärzte ohne Grenzen derzeit 6 Krankenhäuser, 4 Gesundheitszentren und mehrere mobile Kliniken im von der Opposition kontrollierten Gebiet im Norden Syriens - in den Provinzen Idlib, Aleppo und Rakkah.

Rund 450 Mitarbeiter haben in den vergangenen zwei Jahren nach Angaben der Organisation mehr als 80.000 Patienten behandelt, 4.000 Operationen vorgenommen und 1.300 Geburten begleitet. 80.000 Kinder wurden geimpft.

In den Gebieten, in die Ärzte ohne Grenzen keine eigenen Teams schicken kann, versorgt die Organisation syrische medizinische Netzwerke, Krankenhäuser und Behelfskliniken mit Medikamenten, medizinischem Material und Technik.

In den Nachbarländern Syriens leistet Ärzte ohne Grenzen medizinische Hilfe für syrische Flüchtlinge im Libanon, Jordanien, im Irak und in der Türkei.

Nach UN-Angaben wurden in dem Krieg mehr als 100.000 Menschen getötet. 2,1 Millionen Syrer sind ins Ausland geflohen, 4,3 Millionen wurden intern vertrieben.

Etwa 40 Prozent aller Krankenhäuser sind nach offiziellen syrischen Angaben zerstört oder mussten den Betrieb einstellen, weitere 20 Prozent sind beschädigt. Medizinische Einrichtungen werden zum Teil gezielt angegriffen, Ärzte bedroht oder verfolgt.

In Jordanien und im Libanon sind die Flüchtlin gslager heillos überfüllt und die Staaten überfordert mit dem Ansturm. Dort machen die Flüchtlinge bereits über zehn Prozent der Bevölkerung aus. Das strapaziert das Gesundheitswesen und die gesamte Infrastruktur enorm. Die Menschen, die über die irakische Grenze fliehen, haben eine lange Flucht hinter sich. In den vergangenen Wochen war dies aber oft die einzige Grenze, die offen war.

Wie stellen die Leute das konkret an? Wie kommen Flüchtlinge etwa aus Aleppo zu Fuß in den hunderte Kilometer entfernten Irak?

Wir haben von den ankommenden Flüchtlingen dramatische Geschichten gehört. Sie hatten schlimme Odysseen hinter sich, waren festgehalten worden, waren tagelang unterwegs. Sie hatten es irgendwie geschafft, die unzähligen Checkpoints in Syrien zu passieren. Manche flohen auch erst zu Fuß in die Südosttürkei, wanderten dort in Richtung Osten, wechselten wieder auf syrisches Gebiet und dann von dort in den Irak.

Welche Verletzungen und Beschwerden haben Sie direkt an der Grenze behandelt?

Direkt an der Grenze waren es leichte Verletzungen und Beschwerden wie Übelkeit durch Erschöpfung und Wassermangel. Bis zum Grenzübergang ist es ein stundenlanger Marsch durch die Wüste. Außerhalb des Grenzgebietes arbeitet Ärzte ohne Grenzen auch in den Flüchtlingslagern, die gerade im Norden des Iraks überall spontan entstehen. Das größte Camp ist das völlig überfüllte Domeez-Lager, in dem gerade 40.000 bis 60.000 Syrer untergebracht sind.

Wer kam da über die Grenze?

Wir haben überwiegend Frauen und kleine Kinder gesehen. 20 Prozent waren Kleinkinder unter fünf Jahren. Es waren überwiegend Familien mit Kindern. Oft werden aber auch die jungen Männer vorgeschickt, um zu sehen, wie die Lage im Nachbarland ist, ob es Arbeit und einen Platz zum Leben gibt.

Ihre Organisation betreibt aber auch im Kriegsgebiet selbst Krankenhäuser und mobile Gesundheitsstationen. Wie stellen Sie sicher, dass sie nicht zwischen die Fronten geraten?

Tankred Stöbe

Tankred Stöbe

(Foto: Barbara Sigge)

Für uns als humanitäre Organisation ist es sehr wi chtig, nach den Prinzipien Überparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität zu arbeiten. Das ist momentan in Syrien in der Tat schwierig. Wir würden gern auf beiden Seiten des Konfliktes helfen, haben aber bislang nur die Erlaubnis, in den von den oppositionellen Gruppen kontrollierten Gegenden im Norden Syriens zu arbeiten.Wir sind seit Beginn des Konflikts mit Damaskus im Gespräch, um auch im von der Regierung kontrollierten Gebiet zu helfen. Bislang bekommen wir aber keine Genehmigung.

Wie kann man sich das vorstellen? Rufen Sie bei Baschar al-Assad an und versuchen ihn zu überzeugen, dass er den Bau eines Krankenhauses zulässt?

Aus Sicherheitsgründen kann ich hier keine konkreten Angaben machen. Es reisen aber immer wieder Delegationen nach Damaskus, um zu verhandeln. Eine gute Nachricht ist immerhin, dass wir zwar nicht in ganz Syrien selbst aktiv sein, wohl aber landesweit 28 Krankenhäuser und 56 improvisierte Behandlungseinrichtungen unterstützen können. Doch auch eine Organisation wie Ärzte ohne Grenzen ist nicht in der Lage, die Gesundheitssituation in Syrien im Moment wirklich zu verbessern, die ist katastrophal.

Wie finden Sie auf der anderen Seite, unter den vielen verschiedenen Rebellengruppen die richtigen Ansprechpartner?

Es ist schwierig, hier zu verhandeln, weil die Lage in Syrien immer komplexer wird und  immer mehr oppositionelle Gruppen kämpfen. Das macht es uns sehr schwer. Denn unsere Arbeit ist nur möglich, wenn sie auf Akzeptanz stößt.

Sind ihre Mitarbeiter trotz all dieser Bemühungen schon einmal zwischen die Fronten geraten?

Es gab Drohungen und Beschuss unserer Gesundheitseinrichtungen, wir mussten sie auch zeitweise schließen und evakuieren, konnten aber zum Glück immer wieder zurückkehren. Wir wissen, dass Syrien Kriegsgebiet ist und versuchen durch Verhandlungen mit allen Konfliktparteien so gut es geht zu erreichen, dass wir unsere Arbeit tun können. In einem solchen Konflikt  gibt es aber keine absolute Sicherheit.

Auf welche Entwicklung in Syrien stellen Sie sich ein?

Die Menschen, mit denen ich gesprochen habe, waren allesamt pessimistisch. Interessant ist aber, dass die Syrer in den Flüchtlingslagern trotzdem zurück in ihre Heimat wollen. Sie wollen weder in den Nachbarländern bleiben, noch nach Europa. Sie wissen aber genau, dass sich in dem Konflikt keine Lösung zeigt. Insofern stellen auch wir uns auf einen langen Einsatz im Krisengebiet ein.

Mit Tankred Stöbe sprach Nora Schareika

Quelle: ntv.de

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