Politik

Paris erzürnt Ankara Türkei verzichtet auf Sanktionen

In Paris protestieren Türkischstämmige gegen das Völkermord-Gesetz.

In Paris protestieren Türkischstämmige gegen das Völkermord-Gesetz.

(Foto: REUTERS)

Das ohnehin schon angespannte Verhältnis zwischen Frankreich und der Türkei verschlechtert sich weiter. Ministerpräsident Erdogan bezeichnet die Verabschiedung des Völkermordgesetzes als "Massaker an der Meinungsfreiheit". Die angedrohten Sanktionen will er trotzdem nicht in Kraft setzen.

Trotz scharfer Kritik an der Verabschiedung des französischen Völkermord-Gesetzes verzichtet die Türkei vorerst auf die angedrohten Sanktionen gegen den Nato-Partner. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sprach zwar von "Rassismus", "Türkenfeindlichkeit" und einer "mittelalterlichen Mentalität". Er fügte aber hinzu, vorerst werde die Türkei nichts Konkretes gegen Frankreich unternehmen. "Wir gedulden uns", sagte er. Erdogan sprach von einem "Massaker an der Meinungsfreiheit" und rief Frankreich auf, gesunden Menschenverstand walten zu lassen und sich gegen Diskriminierung und Rassismus zu stellen. Weitere Schritte der Türkei werde seine Regierung bekanntmachen.

Vor einigen Tagen hatte das noch anders geklungen. "Verhängnisvolle Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Frankreich und der Türkei" hatte der türkische Vizeregierungschef Bülent Arinc wenige Stunden vor der Abstimmung im Pariser Senat angedroht. Kein Land könne es sich leisten, die Freundschaft der Türkei zu verlieren. Premier Erdogan drohte mit Sanktionen.

Davon ließen sich die Senatoren in Paris allerdings nicht beeindrucken. Trotz aller Drohungen aus Ankara verabschiedeten sie das Gesetz. Es stellt die Leugnung von Völkermorden unter Strafe – worunter in Frankreich auch die Tötung zahlloser Armenier während des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Reich zählt. Die Türkei als Nachfolger des Osmanischen Reiches streitet den Völkermordcharakter ab und hatte mit schweren Konsequenzen gedroht, sollte das Gesetz in Frankreich verabschiedet werden.

Der bereits von der Nationalversammlung gebilligte Text passierte die zweite Kammer und gilt damit als vom Parlament angenommen. 127 Senatoren der von den Sozialisten dominierten Kammer stimmten für den Gesetzentwurf und 86 dagegen. Begleitet war die Abstimmung mit Protesten von mehreren hundert Gegnern und Befürwortern vor dem Senatsgebäude. Das Gesetz muss noch von Präsident Nicolas Sarkozy unterzeichnet werden, damit es in Kraft treten kann. Dieser Schritt gilt als sicher.

Der von der konservativen UMP-Abgeordneten Valérie Boyer eingebrachte Gesetzestext sieht Strafen von bis zu einem Jahr Haft und 45.000 Euro vor, wenn einer der beiden offiziell von Frankreich anerkannten Völkermorde geleugnet wird - also der Holocaust und das Massaker an den Armeniern. Bisher war in Frankreich nur die Leugnung des Holocaust bei Strafe verboten.

Armenien ist wie die meisten Wissenschaftler und Regierungen weltweit der Auffassung, dass zwischen 1915 und 1917 rund 1,5 Millionen christliche Armenier auf Anordnung der osmanischen Führung getötet wurden. Die Türkei weist den Vorwurf des Völkermords allerdings zurück und empfindet ihn als ehrverletzend. Sie setzt die Opferzahl außerdem viel niedriger an. In der öffentlichen Diskussion wird immer wieder betont, dass es dabei auch um die Abwehr möglicher armenischer Ansprüche geht.

Erdogan rudert zurück

Aus Protest gegen die Verabschiedung des Gesetzestextes durch die Nationalversammlung Mitte Dezember hatte die türkische Regierung zeitweise ihren Botschafter aus Paris abberufen und die militärische Zusammenarbeit mit dem Nato-Partner Frankreich eingeschränkt. Das türkische Außenministerium kritisierte die Entscheidung des Senats. Das Gesetz sei ein Schlag gegen die Meinungsfreiheit und die Freiheit der Wissenschaft.

Vor diesem Hintergrund kündigte Erdogan zunächst Sanktionen an, wurde aber nicht konkret. Der Premier verwies nun überraschend auf die Möglichkeit, dass das Gesetz durch einen Einspruch von mindestens 60 Senatoren vor dem französischen Verfassungsrat zu Fall gebracht werden könnte. "Je nach Entwicklung" würden die vorbereiteten Sanktionen aber in Kraft gesetzt. Laut türkischen Medienberichten ist unter anderem der Rauswurf des französischen Botschafters aus der Türkei sowie die Sperrung türkischer Häfen für Kriegsschiffe des Nato-Partners geplant.

Sanktionen könnten sich auch auf staatliche Investitionen erstrecken - wie etwa den Kauf von Atomkraftwerken des französischen Herstellers Areva. Selbst eine mögliche Airbus-Bestellung der nationalen Fluggesellschaft Turkish Airlines könnte fraglich werden. Frankreich ist mit 400 großen Unternehmen der zweitwichtigste Investor am Bosporus. Den Handelsaustausch fürs laufende Jahr schätzen Pariser Medien auf 12 Milliarden Euro - die Hälfte sind französische Exporte.

Französische Zeitungen verwiesen auf die staatliche Souveränität der zweitgrößten Volkswirtschaft der Eurozone und stellten offen die Frage, ob Ankaras Drohungen dem erhofften EU-Beitritt der Türkei förderlich sein könnten. "Frankreich wird verlieren, und auch die Türkei wird verlieren", beantwortete der türkische Botschaftssprecher Engin Solakoglu eine entsprechende Frage im französischen Nachrichtensender BFM. Er machte aber auch deutlich, dass es mit dem türkischen Selbstverständnis unvereinbar sei, wenn andere Staaten Gesetze über die türkische Geschichte erließen.

Massendeportationen im Ersten Weltkrieg

1914 war das Osmanische Reich, aus dem die heutige Türkei hervorging, an der Seite von Deutschland und Österreich-Ungarn in den Ersten Weltkrieg eingetreten. Im April 1915 begann die nationalistische Regierung mit der Festnahme tausender Armenier, die sie als regierungsfeindlich einstufte und die ihrer Auffassung nach mit Russland zusammenarbeiteten.

Den Weg für die Massendeportationen ebnete das Osmanische Reich im Mai mit einem Spezialgesetz aus "Gründen der inneren Sicherheit". Die armenische Bevölkerung wurde zum "Binnenfeind" erklärt und gewaltsam in die Wüsten Mesopotamiens im heutigen Irak sowie nach Syrien und Libanon vertrieben. Ein Großteil der Armenier kam bereits auf dem Weg dorthin oder in Gefangenenlagern ums Leben.

Die Armenier bezeichnen das als Völkermord. Das Europaparlament benutzt diese Bezeichnung seit 1987 ebenfalls. Der Deutsche Bundestag verabschiedete 2005 eine Entschließung zum Gedenken an die Massaker. In der Resolution selbst ist nicht von Völkermord die Rede, wohl aber in der Antragsbegründung.

Die Türkei gibt den Tod von 300.000 bis 500. 000 Menschen zu, sie verteidigt dies aber als Folge der Kämpfe wegen der Zusammenarbeit der Armenier mit den Russen. Außerdem sei eine ähnlich große Zahl muslimischer Türken bei Unruhen von armenischen Freischärlern getötet worden. Die Beziehungen zwischen Armenien und der Türkei waren wegen des Streits über Jahrzehnte eisig; erst im Oktober 2009 wurde ein Abkommen zur Annäherung beider Länder unterzeichnet.

Einwanderung nach Frankreich

Heute leben 3,2 Millionen Armenier in ihrem eigenen Staat. Mehr als vier Millionen weitere leben im Ausland. In der Türkei leben noch etwa 60.000 Armenier, die Zahl der armenischstämmigen Bürger in Frankreich wird auf 500.000 geschätzt.

In der Geschichte gab es mehrere Einwanderungswellen von Armeniern nach Frankreich: Bereits im 17. Jahrhundert kamen armenische Händler in die südfranzösische Hafenstadt Marseille. Danach kamen die Überlebenden des Massakers im Osmanischen Reich zwischen 1915 und 1917. In den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts folgten jüngere Einwanderer, die im Nahen Osten oder der Türkei geboren wurden. Zuletzt kamen – und kommen – Zuwanderer aus Armenien selbst - wegen der wirtschaftlich schwierigen Lage in dem Land.

Quelle: ntv.de, mit dpa/rts/AFP

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