Politik

Militärputschisten werden angeklagt Türkei wählt sich Richtung EU

Nach dem Referendum für eine Verfassungsreform in der Türkei will die regierende AKP zügig eine neue Konstitution erarbeiten. Menschenrechtler klagen derweil die Anführer des Putsches von 1980 an, die mit der Reform ihre Immunität verlieren. Auch die EU ist erfreut - Bundesaußenminister Westerwelle fordert Verhandlungen auf Augenhöhe.

Tausende Türken feiern den Ausgang des Referendums.

Tausende Türken feiern den Ausgang des Referendums.

(Foto: REUTERS)

Nach dem Sieg beim Verfassungsreferendum hat die türkische Regierung von Ministerpräsident Tayyip Erdogan angekündigt, ihre Reformpläne voranzutreiben. Die Regierungspartei AKP werde nun mit den Arbeiten an einer völlig neuen Verfassung beginnen, sagte Erdogan. Durch den Erfolg bei der Volksabstimmung dürften sich Erdogans Aussichten auf eine dritte Amtszeit nach der spätestens im Juli nächsten Jahres anstehenden Parlamentswahl erhöht haben. Menschenrechtler reichten derweil Klagen gegen Verantwortliche des Militärputsches von 1980 ein, die durch die Verfassungsänderungen ihre Immunität verlieren.

Der Gewinner der Abstimmung sei die Demokratie, sagte Erdogan in Istanbul vor jubelnden Anhängern. Mit der Reform ende das "Vormundschafts-System" in der Türkei. Mit Blick auf die traditionell mächtige Rolle des Militärs zeigte sich Erdogan offen für parteiübergreifende Gespräche über eine völlig neue Verfassung. Mit den insgesamt 26 Änderungen erhalten die türkischen Bürger mehr Rechte, zum Beispiel erstmals die Möglichkeit von Individualklagen vor dem Verfassungsgericht. Zugleich wird die zivile Kontrolle über die Armee gestärkt.

Kurden boykottieren

Die Beteiligung an dem Referendum lag laut Erdogan zwischen 77 und 78 Prozent. Im kurdischen Südosten lag die Wahlbeteiligung laut Medienberichten jedoch nur bei unter zehn Prozent. Die Kurdenpartei BDP hatte zu einem Boykott aufgerufen. In türkischen Medien erhielt die Regierung für ihre Vorhaben Rückendeckung. "Das Ja ist nicht genug", titelte die liberale Tageszeitung "Radikal" und kommentierte, das Ergebnis gebe den Wunsch nach Veränderung und einer neuen Verfassung wider.

Erdogan kann jetzt den liberalen Weg gehen, oder die islamische Identität stärken.

Erdogan kann jetzt den liberalen Weg gehen, oder die islamische Identität stärken.

(Foto: REUTERS)

Inoffiziellen Ergebnissen zufolge stimmten 58 Prozent der Wähler für die weitreichendsten Verfassungsänderungen seit Jahrzehnten, 42 Prozent waren dagegen. 30 Jahre nach der Einführung der Verfassung durch eine Militärregierung ging es bei der Abstimmung um grundlegende Veränderungen bei Armee und Justiz, die den Streit zwischen den säkularen und islamischen Kräften neu entflammt haben. Kritiker fürchten, die AKP könne nach einem neuen Wahlsieg ein islamistisches Programm umsetzen.

Westerwelle: Türkei nicht ausgrenzen

An der Börse wurde der Ausgang der Volksabstimmung freudig aufgenommen. Die Aktienkurse kletterten auf ein Rekordhoch. Die Europäische Union sprach von einem Schritt in die richtige Richtung bei den türkischen Bemühungen um einen EU-Beitritt. Erweiterungskommissar Stefan Fuele forderte zugleich, dem Referendum müssten weitere Reformen bei den Grundrechten wie etwa der Meinungs- und der Religionsfreiheit folgen.

Bundesaußenminister Guido Westerwelle hält einen Beitritt des Landes zur EU ausdrücklich für möglich. Er grenzte sich damit vom Koalitionspartner CDU/CSU ab, der dem Land lediglich eine "privilegierte Partnerschaft" anbieten will. Westerwelle sagte, das Referendum sei ein Zeichen dafür, dass die Türkei entschlossen sei, den Reformprozess nach innen fortzusetzen. Die Türkei orientiere sich in Richtung Europa. "Niemand sollte ein so wichtiges Land, dass sich augenscheinlich modernisiert, vor den Kopf stoßen und es ausgrenzen." Auch US-Präsident Barack Obama begrüßte die hohe Beteiligung an der Abstimmung beim NATO-Verbündeten. Diese belege die "Vitalität der türkischen Demokratie", erklärte das Weiße Haus.

Strafverfahren beantragt

Türkische Menschenrechtler verloren keine Zeit, die Verfassungsänderungen anzuwenden. Sie beantragten bei der Staatsanwaltschaft in Ankara Strafverfahren gegen die Führer des Militärputsches von 1980 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Nach dem Putsch waren 50 Menschen hingerichtet und Hunderttausende festgenommen worden. Viele von ihnen wurden gefoltert, starben in Haft oder verschwanden.

Unter den Beschuldigten ist auch Ex-Präsident Kenan Evren. Der heute 93-Jährige verteidigte sein Vorgehen von damals. Das Eingreifen habe ein Ende jahrelanger Gewalt zwischen linken und rechten Extremisten gebracht, bei der rund 5000 Menschen getötet worden seien.

Quelle: ntv.de, rts/AFP/dpa

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