Erdogan setzt sich gegen Militär durch Türken wollen Verfassungsreform
12.09.2010, 18:17 Uhr
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Eine Mehrheit der Türken stimmt für eine Änderung der Verfassung. Die Regierung von Erdogan möchte damit den Einfluss des Militärs beschneiden, er verspricht dem Volk mehr Freiheit und Demokratie. Kritiker werfen Erdogan dagegen vor, politischen Einfluss auf die Justiz ausüben zu wollen und die Türkei zu einem islamischen Staat zu machen.
Die Wähler in der Türkei haben die weitreichendste Verfassungsreform in ihrem Land seit Jahrzehnten gebilligt. Das von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan vorgelegte Änderungspaket erhielt nach Hochrechnungen verschiedener Fernsehsender etwa 58 Prozent der Stimmen. Erdogan konnte damit einen wichtigen politischen Erfolg verbuchen.
Mit den insgesamt 26 Änderungen erhalten die türkischen Bürger mehr Rechte, zum Beispiel erstmals die Möglichkeit von Individualklagen vor dem Verfassungsgericht. Zugleich wird die zivile Kontrolle über die Mlitärs gestärkt, Putsch-Generäle können erstmals vor Gericht gestellt werden. Die Militärgerichte sollen künftig nur noch Fälle aus ihrem Bereich behandeln und dürfen nicht mehr über Zivilisten urteilen. Verfahren wegen Verstößen gegen die Staatssicherheit und die Verfassung werden von zivilen Gerichten übernommen. Umstritten ist eine in dem Paket enthaltene Justizreform, die Präsident und Parlament mehr Einfluss auf die Auswahl hoher Richter einräumt. Die EU hatte das Änderungspaket trotz einiger Abstriche unterstützt.
Boykott nur bei den Kurden
Den Hochrechnungen der Fernsehsender zufolge siegten die Gegner der Verfassunsgsreform nur in einigen Provinzen im äußersten Westen der Türkei sowie in vereinzelten Gegenden von Anatolien. Im gesamten Rest des Landes waren die Ja-Stimmen in der Mehrheit. Insgesamt hatte das Ja-Lager einen Vorsprung von rund sechs Millionen Stimmen. Die Wahlbeteiligung lag trotz eines Boykottaufrufes der Kurdenpartei BDP bei landesweit 76 Prozent; im kurdischen Südosten fiel sie laut Medienbericht stellenweise auf unter zehn Prozent.

Regierungschef Erdogan mit seiner Frau: Schritt zur Freiheit oder politischen Einflussnahme?
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Erdogan bezeichnete die Reform als notwendigen Schritt bei der Heranführung der Türkei an die EU; die derzeitige Verfassung von 1982 ist ein Produkt der damaligen Militärherrschaft.
Die stärkste Unterstützung für Erdogan kommt aus dem ländlichen Anatolien im Osten des Landes, das vom weltoffenen Leben in den westlichen Großstädten wie Ankara und Istanbul weit entfernt sind. Hier profitiert eine aufstrebende, religiöse Mittelschicht vom wirtschaftlichen Aufschwung des Landes, den Erdogan während seiner achtjährigen Regierungszeit durch eine Öffnung für Märkte wie den Nahen Osten erreicht hat. "Aus der Türkei in die Welt", heißt es auf Spruchbändern in Konya, auf denen für eine Zustimmung zu der Reform geworben wird.
EU-Vertreter hatten erklärt, die Reformen grundsätzlich zu unterstützen. Allerdings hätte es eine breitere und umfassende Debatte geben sollen. Die Türkei erhofft sich, durch die Verfassungsänderung größere Chancen auf einen EU-Beitritt zu haben.
EU bleibt skeptisch

Wie stimmen sie ab? Letzte Umfragen haben eine Mehrheit für die Verfassungsänderung vorausgesagt.
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Bei einem informellen Treffen der EU-Außenminister mit dem türkischen Amtskollegen Ahmet Davutoglu wurden am Samstag allerdings erneut Vorbehalte gegen eine Aufnahme der Türkei in die Union deutlich. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton warb dafür, die strategischen Beziehungen zur Türkei auch abseits der Frage der Mitgliedschaft zu betrachten. Bundesaußenminister Guido Westerwelle nannte die Beitrittsverhandlungen einen "ergebnisoffenen Prozess". Davutoglu reagierte enttäuscht. "Die Türkei wird niemals irgendeine Alternative zum Beitrittsprozess akzeptieren", sagte er in Brüssel.
Die Türkei ist aber zu einer strategischen Zusammenarbeit mit der Europäischen Union bereit, sofern dies kein Ersatz für einen Beitritt zur EU sein soll, sagte Davutoglu. Zuvor hatten die EU-Außenminister den Wunsch nach engerer Zusammenarbeit mit der weltpolitisch immer wichtigeren Türkei erklärt. "Ohne Bewegung in den Beitrittsverhandlungen ist es schwierig, eine solche strategische Vision zu entwickeln", sagte Davutoglu nach dem Treffen mit den EU-Außenministern. Die Beitrittsverhandlungen - bisher wird in 13 von 35 Themenbereichen verhandelt - kämen nur schleppend voran: "Wir haben unsere Unzufriedenheit mit dem Tempo der Verhandlungen deutlich gemacht." Er verlangte den Verzicht auf politische Vorbedingungen. Die EU hat acht Verhandlungsbereiche blockiert, weil die Türkei und EU-Mitglied Zypern nach wie vor im Streit liegen.
Der schwedische Außenminister Carl Bildt sagte, bestimmte Länder hätten "ziemlich große Vorbehalte" gegen einen türkischen Beitritt. "Aber sogar diese Länder erkennen stärker als vielleicht in der Vergangenheit die strategische Bedeutung der Türkei für die EU und für unsere Sicherheits- und Außenpolitik im Allgemeinen", summierte Bildt die Ministergespräche.
Quelle: ntv.de, rts/AFP/dpa