Politik

Anlaufstelle für Überläufer "Wir bekommen täglich 50 bis 100 Anfragen"

Russische Gefangene nach einem Austausch. Nach ukrainischen Angaben werden Überläufer in der Ukraine gut behandelt.

Russische Gefangene nach einem Austausch. Nach ukrainischen Angaben werden Überläufer in der Ukraine gut behandelt.

(Foto: REUTERS)

Seit dem ersten Tag des Kriegs in der Ukraine legen russische Soldaten nach Angaben Kiews massenweise ihre Waffen nieder und begeben sich freiwillig in die ukrainische Gefangenschaft. Eigens für solche Fälle wurde im Land eine Hotline eingerichtet. Mitte September rief die Ukraine dann eine zentrale Anlaufstelle für russische Deserteure ins Leben. Der Sprecher der Initiative "Ich will leben", Witali Matwijenko, erzählt im Interview mit dem unabhängigen exil-belarussischen Nachrichtenportal Zerkalo.io, warum viele Russen nicht kämpfen wollen, wie die Überläufer in der Ukraine behandelt werden - und wie viel Geld sie in der Gefangenschaft verdienen. Die Übersetzung des Interviews erscheint mit freundlicher Genehmigung der Zerkalo-Redaktion.

Herr Matwijenko, könnten Sie einen durchschnittlichen russischen Überläufer beschreiben, der sich bei Ihnen meldet?

Witali Matwijenko: Es ist eine Person mit der klaren Absicht, sich zu ergeben, 25 bis 40 Jahre alt, hat Familie und eine Einkommensquelle. Meistens sind es Menschen, die in der Armee bereits gedient haben, aber keine Kampferfahrung besitzen. Und sie wollen nicht in den Krieg ziehen, um zu töten oder selbst getötet zu werden.

Welche Fragen stellen die Menschen, wovor haben sie am meisten Angst?

Die meisten fragen zuallererst, ob es sich nicht um eine Falle des (russischen Geheimdiensts - Anm. d. Red.) FSB handelt. Am Anfang haben uns viele nicht getraut, aber inzwischen bekommen wir weniger solcher Anrufe - das Projekt wird bekannter. Natürlich ist jeder um seine Sicherheit besorgt - darüber, dass die Informationen von russischen Behörden abgefangen werden.

Hat die Zahl der Anfragen zugenommen, seitdem in Russland am 21. September die Mobilisierung ausgerufen wurde?

Ja. Wir haben mit unserer Arbeit am 18. September angefangen, kurz vor der Mobilisierung in Russland. Ende September mussten wir die Zahl der Leitungen und der Operatoren erhöhen, weil es eine Flut von Anrufen gab. Die Menschen waren verängstigt, sie wollten nicht in den Krieg ziehen.

Wie viele Anrufe erhalten Sie pro Tag?

Durchschnittlich bekommen wir täglich zwischen 50 und 100 Anfragen. Bei den meisten Anrufern handelt es sich jedoch um Menschen, die sich zunächst nur erkundigen wollen, wie sie sich im Fall der Fälle sicher ergeben können. Zahlen, wie viele Soldaten tatsächlich mit unserer Hilfe desertieren, veröffentlichen wir nicht, das ist eine interne Statistik. Bevor sie an die Front geschickt werden, können sie sich mit uns in Verbindung setzen, danach wird es schwieriger. Nach der Mobilisierung wird ihre Möglichkeit, mit der Außenwelt zu kommunizieren, sofort eingeschränkt: Sie werden überwacht, in Kasernen untergebracht, in denen man sich gegenseitig nicht traut. Smartphones werden weggenommen. Deshalb raten wir allen, SIM-Karten und einfache Tastenhandys versteckt mitzunehmen - und sich unsere Nummer zu merken.

Kommt es auch vor, dass sich russische Kommandeure ergeben?

Es gibt auch solche Fälle. Es kommt vor, dass uns Offiziere anrufen und angeben, dass nicht nur sie, sondern ihre ganze Einheit sich ergeben will.

Hatten Sie bereits mit russischen Häftlingen zu tun, die von der Wagner-Gruppe in Gefängnissen rekrutiert werden?

Durch "Ich will leben" kommen solche Menschen nicht. Sie unterzeichnen mit (Wagner-Chef Jewgenij) Prigoschin einen bestimmten Vertrag, den sie aber nicht erhalten - genauso wie andere Dokumente. Kommunikationsmittel haben sie auch nicht. Sie werden direkt aus den Strafkolonien in die Ausbildungszentren gebracht, wo sie Militäruniformen und Waffen erhalten und ausgebildet werden. Diese Menschen haben meistens keine Möglichkeit, uns zu kontaktieren. Sie werden an die gefährlichsten Frontabschnitte geschickt und dürfen sich nicht zurückziehen, da sie sonst von den eigenen Kameraden "beseitigt" werden, wie es heißt. Wenn sie gefangen genommen werden, dann geschieht dies meist im Kampf.

Müssen Kriegsgefangene im Lager arbeiten?

Nach der Genfer Konvention dürfen nur Offiziere die Arbeit verweigern. Es gibt Werkstätten in Lagern, die Gefangenen arbeiten mit Holz, stellen bestimmte nützliche Produkte her. Die Ukraine gibt für ihre Unterbringung und Verpflegung Geld aus, und sie müssen es auf eine bestimmte Weise abarbeiten. Kriegsgefangene erhalten dafür eine Vergütung. Ja, sie ist klein, aber sie steht im Einklang mit der Genfer Konvention. Der Lohn pro Tag beträgt etwa 10 Hrywnja (umgerechnet 0,25 Euro). Dieses Geld kann für Zigaretten, Lebensmittel oder zusätzliche Telefonate nach Hause ausgegeben werden. Wenn sie kein Geld auf dem Konto haben, bezahlt unser Staat die Telefonate.

Wie oft können sie ihre Angehörigen anrufen?

Theoretisch besteht die Möglichkeit, jeden Tag bis zu 15 Minuten zu telefonieren. Aber weil es meistens nur eine Leitung gibt, erstellen sie selbst Wartelisten.

Es gibt eine Menge Hinweise darauf, dass Ukrainer in russischer Gefangenschaft unmenschlich behandelt werden. Man sieht, wie mager sie dort herauskommen, man hört, was für grausame Geschichten sie erzählen. Glauben Sie, dass so etwas auch in der Ukraine vorkommen kann?

Die Ukraine ist ein demokratisches Land und hält sich an die Genfer Konvention zum Umgang mit Kriegsgefangenen. Sie werden unter komfortablen Bedingungen untergebracht, was man von den von Russland gefangen gehaltenen ukrainischen Soldaten nicht behaupten kann.

Im russischen Kriegsgefangenenlager in Oleniwka wurden im Juli Dutzende ukrainische Soldaten getötet. Lassen die Ukrainer vor dem Hintergrund solcher Vorfälle ihre Wut nicht an den russischen Gefangenen aus?

Wir haben eine etwas andere Gesellschaft als die Russen. Wenn man russische Kriegsgefangene sieht, versteht man, dass es sich um eingeschüchterte, nicht selbstbestimmte Menschen handelt, die in einem totalitären System leben. Und egal, wie sehr sie für Putin sind - man erkennt, dass sie vielleicht keine andere Wahl hatten. Wenn sie gefangen genommen wurden, geht von ihnen keine Bedrohung mehr aus und es besteht keine Notwendigkeit, eigene Wut an ihnen auszulassen. Wir sind eine europäische Nation. Wir erhalten auch internationale Hilfe, weil wir zeigen, dass wir uns an internationales Recht und Gesetze halten. Sie werden ihrem Status entsprechend recht human behandelt. Und das trotz der Tatsache, dass sie gekommen sind, um unsere Frauen und Kinder zu töten und unsere Häuser zu zerstören.

Übersetzt von Uladzimir Zhyhachou

(Dieser Artikel wurde am Freitag, 23. Dezember 2022 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de

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