Ex-Oppositionführerin Timoschenko vor Freilassung? Ukrainisches Parlament stellt sich gegen Janukowitsch
21.02.2014, 21:03 Uhr
Das ukrainische Abkommen zwischen Opposition und Präsident Janukowitsch gibt Hoffnung. In Kiew positioniert sich das Parlament klar gegen das Staatsoberhaupt, dessen Erzfeindin Timoschenko bald freikommen könnte. Die EU spricht über Finanzhilfen. Die Ukraine stehe vor der Staatspleite, heißt es.
Auf das Blutvergießen folgt endlich der Friedensschluss. In der Ukraine haben Regierungsgegner und Präsident Viktor Janukowitsch ein Abkommen zur Lösung der Staatskrise unterzeichnet. Unter Vermittlung der EU vereinbarten die Konfliktparteien vorgezogene Präsidentenwahlen bis zum Dezember, eine Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie und eine Übergangsregierung unter Beteiligung der Opposition.
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Überraschend ebnete das Parlament am Abend den Weg für eine Freilassung der seit rund zweieinhalb Jahren inhaftierten Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko. Die Oberste Rada in Kiew stimmte mit großer Mehrheit für ein Gesetz, das die Vorwürfe des Amtsmissbrauchs gegen die Ex-Regierungschefin nicht mehr als Straftaten wertet. Timoschenko war Anführerin der demokratischen Orangenen Revolution von 2004, Janukowitsch ihr langjähriger Erzfeind.
Innenminister soll gehen
Zudem votierten die Parlamentarier ohne Gegenstimmen für eine Rückkehr zur Verfassung von 2004. Damit wird die Macht des Präsidenten deutlich beschnitten und das Parlament gestärkt. Allerdings muss Janukowitsch beide Gesetze noch unterzeichnen, damit sie in Kraft treten.
Die Oberste Rada setzte darüber hinaus den umstrittenen Innenminister Witali Sachartschenko ab. Die Opposition macht den 51-Jährigen für brutale Einsätze der Polizei gegen friedliche Demonstranten verantwortlich. Allein am Donnerstag hatten unbekannte Scharfschützen Dutzende Regierungsgegner erschossen.
Trotz der Beschlüsse ist allerdings offen, ob das Land nach der Eskalation der Gewalt mit mindestens 77 Toten nun zur Ruhe kommt. Eine wichtige Radikalengruppe beharrt auf einem sofortigen Abgang Janukowitschs und kündigte weiteren Widerstand an.
Amnestie für Oppositionelle
Nach dem von Außenminister Frank-Walter Steinmeier mit ausgehandelten Friedensplan soll nun innerhalb von zehn Tagen eine Regierung der nationalen Einheit gebildet werden, unter Einschluss der Opposition. Gegen Verantwortliche für die Gewalteskalation soll zudem ermittelt werden - unter Aufsicht der Regierungsbehörden, der Opposition und des Europarats. Das Parlament beschloss zugleich die Freilassung aller Demonstranten, die bei den gewaltsamen Protesten der vergangenen Tage festgenommen worden waren. Dies geschah im Rahmen einer Amnestie für alle Beteiligten der blutigen Auseinandersetzungen in Kiew.
Bis September soll laut dem Abkommen eine grundlegende Verfassungsreform erarbeitet werden. Ziel ist die weitere Stärkung von Regierung und Parlament auf Kosten des Staatschefs - auch dies eine Kernforderung der Opposition.
Doch schon jetzt scheint Janukowitschs Machtbasis zu bröckeln. Dem Präsidenten gehen nach den Zugeständnissen an die Opposition immer mehr Abgeordnete seines Lagers von der Fahne. Schon 24 Politiker der regierenden Partei der Regionen verließen die Fraktion, wie Vize-Parlamentschef Ruslan Koschulinski mitteilte. Sie hatte zuletzt 205 von 450 Sitzen. Bei der Unterzeichnung der Vereinbarung zeigte sich Janukowitsch überaus reserviert. Obwohl er wegen des zunehmenden internationalen Drucks einlenkte, könnte er den relativ großzügigen Zeitrahmen zu seinen Gunsten nutzen und sich politisch klug positionieren.
Steinmeier: Ukraine stand vor Spaltung
Möglich wurde das Abkommen, nachdem eine EU-Delegation um Steinmeier sowie der russische Vermittler Wladimir Lukin die ganze Nacht hindurch mit Janukowitsch und Oppositionsführern verhandelt hatten. Als die Vereinbarung stand, holten Steinmeier und sein polnischer Kollege Radoslaw Sikorski die Zustimmung des sogenannten Maidan-Rates ein. Dem Gremium gehören verschiedene Gruppen von Regierungsgegnern an, die seit Wochen im Kiewer Stadtzentrum demonstrierten, darunter auch Radikale und Gewaltbereite.
Steinmeier bewertete die Übereinkunft nach der Unterzeichnung vorsichtig optimistisch. "Das war vielleicht die letzte Chance, um einen Ausweg aus der Spirale der Gewalt zu finden. Nicht alle Probleme sind gelöst", sagte er. Trotzdem gebe es Grund, "zuversichtlich nach vorne zu schauen". Steinmeier zufolge stand die Ukraine vor der unterzeichneten Vereinbarung kurz vor einer Spaltung, die territoriale Integrität habe auf dem Spiel gestanden. Die Lage sei dramatisch gewesen.
Reporter berichteten von gelöster Stimmung auf dem zentralen Unabhängigkeitsplatz, nachdem die Einigung bekanntgegeben worden war. Bei den Protesten ums Leben gekommene Menschen wurden in Särgen durch die Menge getragen, die Anwesenden beteten gemeinsam.
EU spricht über Finanzhilfen
Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel sah nach den Verhandlungen eine vorsichtige, letzte Chance, nun zu einem politischen Prozess zu kommen. Die wirtschaftliche Situation des Landes ist allerdings alles andere als einfach. Die Ukraine steht nach Ansicht vieler Analysten - darunter auch die renommierte Ratingagentur Standard & Poor's - kurz vor der Staatspleite. Auch wegen Hilfszahlungen aus Moskau hatte Janukowitsch seinen Kurs in Richtung Moskau ausgerichtet.
Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton hält finanzielle Unterstützung aus Brüssel nun ebenfalls für möglich: "Wir haben über kurz-, mittel und langfristige Hilfspakete gesprochen. Ich habe mit dem IWF, der Europäischen Investitionsbank und der Bank für Wiederaufbau und Entwicklung gesprochen, die alle in der Ukraine engagiert sind", sagte sie: "Wir möchten, dass das Land vorankommt."
Der russische Vermittler Lukin unterzeichnete die Vereinbarung zwar nicht, weil es noch "offene Fragen" gebe, kündigte aber nach seiner Rückkehr in Moskau an, er wolle die Vermittlung in Kiew fortsetzen. Was das heißt und wie genau Russland den entstandenen Kompromiss bewertet, ist nicht bekannt. Dass der Kreml die anstehenden Machteinbußen des nach Russland orientierten Janukowitsch begrüßt, ist allerdings sehr unwahrscheinlich. Dafür ist die Ukraine geopolitisch zu wichtig - und treten die Verfassungsänderungen wie geplant in Kraft, kann das Parlament ohne Zustimmung des Präsidenten Verträge mit der EU schließen.
Die Horrorvision in Moskau ist, dass mittel- bis langfristig der so scharf kritisierte Nato-Raketenabwehrschirm bis an die Staatsgrenze Russlands heranrücken könnte. Janukowitsch hatte im November vergangenen Jahres auf Druck Russlands hin ein historisches Abkommen mit der EU kurzfristig auf Eis gelegt. Eben daran hatten sich die Proteste entzündet.
Quelle: ntv.de, rpe/dpa