Noch einiges zu tun für die Möchtegernkoalitionäre Vertrag lässt viel Spielraum für Krawall
26.11.2013, 17:52 Uhr
Auf in den Kampf: CSU-Chef Seehofer und Kanzlerin Merkel gehen ins Willy-Brandt-Haus.
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In dieser Nacht wollen Union und SPD die letzten Streitpunkte lösen. Doch wenn die Parteichefs in den nächsten Stunden nicht noch deutlich nachbessern, ist die Große Koalition auf Dauerkrach programmiert. Denn beide Seiten interpretieren ihre Formelkompromisse völlig unterschiedlich. Nur eines ist klar: Über Personal wird nicht geredet. Das verhindert die SPD.
Bei den Koalitionsverhandlungen von Union und SPD hat der Endspurt begonnen. Am Mittag kamen 15 Spitzenvertreter von CDU, CSU und SPD zu einer kleinen Runde zusammen, um die mit 77 Unterhändlern besetzte Entscheidungsrunde vorzubereiten, die am Abend tagen soll. "Ich richte mich auf eine sehr lange Nacht ein", sagte CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt. "Ich habe die Zahnbürste eingepackt."
Noch immer sind zwischen den Parteien mehrere Punkte umstritten. Nach Darstellung der Union sind die Knackpunkte die Finanzen und die geplanten Verbesserungen bei der Rente. Bisher sei es nicht gelungen, die zusätzlichen Ausgabenwünsche einzudampfen, hieß es am Rande der Verhandlungen im Willy-Brandt-Haus, der SPD-Zentrale in Berlin.
Dass es keine Steuererhöhungen geben soll, steht bereits fest, in diesem Punkt hat die SPD nachgegeben. "Keine Steuererhöhungen, ohne neue Schulden ab 2015 auskommen - das ist ein sehr ehrgeiziges Projekt, aber eins, dem wir uns verpflichtet fühlen und das den Rahmen bildet für alles, was man wünschenswert nennen mag", sagte CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe bei n-tv.
Beim Mindestlohn sind zentrale Details noch offen
Auch der Mindestlohn ist bereits beschlossen. In einem Entwurf für den Koalitionsvertrag aus der Nacht zum Dienstag, der unter Journalisten kursiert und vom Grünen-Politiker Malte Spitz veröffentlicht wurde, findet sich der Satz: "Durch die Einführung eines allgemein verbindlichen Mindestlohns soll ein angemessener Mindestschutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sichergestellt werden." Strittig sind allerdings weiterhin der Zeitpunkt für den Start, die erstmalige Festsetzung des Mindestlohns sowie etwaige Differenzierungsmöglichkeiten.

Protest vor der SPD-Zentrale. Volksentscheide wird es nicht geben, die CDU wollte das nicht.
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Der Satz zeigt, dass der Koalitionsvertrag eine Menge Sprengstoff enthalten könnte, wenn die Parteivorsitzenden Angela Merkel, Horst Seehofer und Sigmar Gabriel in dieser Nacht nicht konkrete Kompromisse formulieren. Denn für die SPD ist klar, dass der Mindestlohn bei 8,50 Euro starten soll.
"Wir haben von Anfang an gesagt, dass uns der Mindestlohn 8,50 Euro in ganz Deutschland und für alle arbeitenden Menschen wichtig ist. Das weiß auch die Union", sagte SPD-Vizechefin Manuela Schwesig n-tv. "Der Mindestlohn ist ein zentrales Projekt der SPD, wir haben viele Jahre dafür gekämpft und es hat für uns nur Sinn, in eine Regierung zu gehen, wenn wir auch genau diesen Punkt gut hinbekommen."
Pkw-Maut kommt - oder auch nicht
Ebenfalls noch offen ist die Ausgestaltung der Pkw-Maut für Ausländer. Der Koalitionsvertrag soll mehr enthalten als eine Absichtserklärung, zugleich jedoch auf zwei Bedingungen verweisen, die für die Einführung einer solchen Maut gegeben sein müssen: Kein Fahrzeughalter soll stärker als bisher belastet werden und die Maut soll EU-rechtskonform sein.
"Ein entsprechendes Gesetz soll im Verlauf des Jahres 2014 verabschiedet werden", heißt es im Entwurf des Koalitionsvertrags. Doch in der SPD geht man offenbar davon aus, dass das exakte Gegenteil der Fall ist. "Das Wort Pkw-Maut wird möglicherweise im Koalitionsvertrag auftauchen, aber ich schließe aus, dass die Maut kommt", sagte der SPD-Verhandlungsführer für Verkehr, der bayerische SPD-Chef Florian Pronold. Auch hier ist ganz offenkundig Streit schon im Koalitionsvertrag angelegt.
Die dritte Bedingung aus der CDU, dass die Maut mehr Geld einbringen soll als der bürokratische Aufwand kostet, wurde in den Vertragsentwurf nicht aufgenommen. Experten bezweifeln, dass sich eine Regelung finden lässt, die diese Bedingungen erfüllt.
Formelkompromiss bei der Homo-Ehe
Ähnlich wie bei der Pkw-Maut und dem Mindestlohn ist auch das Thema der Gleichstellung homosexueller Partnerschaften für Dauerkrach in der Koalition gut. Auf den ersten Blick liest sich der Vertragsentwurf wie eine eindeutige Absichtserklärung: "Wir werden darauf hinwirken, dass bestehende Diskriminierungen von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften und von Menschen auf Grund ihrer sexuellen Identität in allen gesellschaftlichen Bereichen beendet werden", heißt es dort.

SPD-Fraktionschef Steinmeier hat den aktuellen Vertragsentwurf dabei - das Papier ist jedoch längst im Netz verfügbar.
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Allerdings läuft es bei der Homo-Ehe ganz ähnlich wie bei der Pkw-Maut, nur umgekehrt: Aus der CDU heißt es, die Formulierung im Vertragsentwurf bedeute nicht die völlige Gleichstellung der Homo-Ehe.
Faktisch ist die Formulierung zur Homo-Ehe ein Formelkompromiss. Denn alle Parteien gehen davon aus, dass das Karlsruher Gericht ohnehin die Schlechterstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspaare auch bei Adoptionen kippen wird. Dann wird der Union nichts anderes übrig bleiben, als dieses Urteil umzusetzen. Bis dahin hat die SPD reichlich Gelegenheit, die Union vor sich herzutreiben.
Streit bei der Rente
Bei den Rentenplänen von Union und SPD gibt es schon jetzt offenen Streit. Die Sozialdemokraten wollen, dass Angestellte nach 45 Versicherungsjahren künftig abschlagsfrei mit 63 Jahren in Rente gehen können. "Wegen strittiger Finanzierung nicht abschließend konsentiert", heißt es im Entwurf des Koalitionsvertrags. Über diesen Punkt werden wohl die Parteichefs in der "Nacht der langen Messer" befinden müssen.
Das gilt auch für die Mütterrente, ursprünglich ein Projekt der CSU, das die CDU sich im Wahlkampf - zunächst widerwillig - zu Eigen gemacht hat. Dabei geht es darum, Müttern, deren Kinder vor 1992 auf die Welt gekommen sind, einen zusätzlichen Rentenpunkt zu geben. Die Union will diese Rentenerhöhung, die 6,5 Milliarden Euro pro Jahr kosten würde, aus der Rentenkasse finanzieren. "Finanzierung strittig", heißt es im Vertragsentwurf. "Die bessere Anerkennung ist durch die gute finanzielle Situation der Rentenversicherung und vorhandene Mittel aus dem Zuschuss des Bundes möglich", haben die Unterhändler der Union dazugeschrieben.
Die Deutsche Rentenversicherung hat unlängst vor einer solchen Lösung gewarnt: "Allein durch die Umsetzung der Pläne zur Mütterrente würden die langfristigen Einspareffekte der Rente mit 67 hinfällig gemacht", sagte der Chef der Rentenversicherung, Herbert Rische.
Fond für den Abriss alter AKW kommt nicht
Auch bei der Energiepolitik geht es um Milliarden. "Bei Rente und Energiepolitik wird es schwierig, weil da sehr viel Geld bewegt werden muss", sagte SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles.
Einig sind die Parteien immerhin, dass sie das Erneuerbare-Energien-Gesetz bis Ostern 2014 reformieren wollen. Darüber hinaus sind jedoch viele Punkte offen. Die SPD etwa fordert eine Senkung der Stromsteuer um 25 Prozent, um die Kosten der Energiewende gerecht zu verteilen.
Gescheitert ist die SPD mit der Forderung, einen Fonds für die Abrisskosten der Atomkraftwerke einzurichten. Wer den Rückbau der Anlagen bezahlen soll, ist zwar nach wie vor unklar. Doch die Union wollte die Energieversorger nicht belasten. Der Fonds, in den die AKW-Betreiber zumindest Teile ihrer Rückstellungen für die Entsorgungskosten einzahlen sollten, wird im Text nicht mehr erwähnt, stattdessen findet sich die Formulierung: "Über die Realisierung der rechtlichen Verpflichtungen der Energieversorgungsunternehmen wird die Bundesregierung mit diesen Gesprächen führen."
Die SPD hatte zudem eine Verlängerung der bis 2016 befristeten Brennelementesteuer verlangt. Auch diese Forderung findet sich nicht mehr, nachdem schon in früheren Verhandlungen eine Erhöhung der Steuer vom Tisch genommen wurde. Darüber hinaus findet sich auch die Verankerung des Klimaschutzes in einem eigenen Gesetz nicht mehr in dem Vertragstext.
Doppelte Staatsbürgerschaft taucht nicht auf
Die von der SPD geforderte generelle Einführung der schon jetzt häufig möglichen doppelten Staatsbürgerschaft taucht in den bislang bekannt gewordenen Entwürfen für den Koalitionsvertrag gar nicht auf.
Die flüchtlingspolitischen Erklärungen im Text wurden von Pro Asyl bereits scharf kritisiert. "Von der neuen Koalition scheinen keine Initiativen auszugehen, um Flüchtlinge in Europa besser zu schützen", kritisierte der Geschäftsführer der Organisation, Günter Burkhardt. Der SPD warf Burkhardt vor, "dass sie auf den Kurs der Abschottung Europas einschwenkt und am Ausbau der Festung mitbaut".
Im Entwurf heißt es zwar mit Blick auf die überforderten Länder im Süden Europas, bei der Flüchtlingspolitik fordere die Koalition "mehr Solidarität unter den EU-Mitgliedstaaten". Aber schon im nächsten Satz wird auf die Sicherung der EU-Außengrenzen verwiesen.
Zur Beschleunigung der Asylverfahren wollen Union und SPD die Balkanstaaten Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina als sichere Herkunftsländer einstufen. Auch dieses Vorhaben lehnt Pro Asyl ab. "Das blendet aus, dass in diesen Staaten Roma rassistisch motiviert diskriminiert werden", sagte Burkhardt. Als positiv bewertete er die geplante Bleiberechtsregelung für langjährig geduldete Flüchtlinge. Dies sei "ein wichtiger Fortschritt".
Einigung bei der Vorratsdatenspeicherung
Eine Einigung enthält der Entwurf auch bei der umstrittenen Vorratsdatenspeicherung. Nach dem Willen von Union und SPD sollen die Daten zwar ohne Anlass gespeichert werden. Ein Zugriff zur Kriminalitätsbekämpfung soll aber nur bei schweren Straftaten und nach richterlicher Genehmigung sowie zur Abwehr akuter Gefahren für Leib und Leben erlaubt werden. Zudem wollen Union und SPD auf EU-Ebene darauf hinwirken, dass die Speicherfrist statt der bislang geplanten sechs Monate auf drei Monate begrenzt wird.
"Wir haben vier Jahre erfolgreich gegen die Einführung der Vorratsdatenspeicherung gekämpft", sagte die scheidende Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. "Schon jetzt zeigt sich, wie sehr eine liberale Stimme fehlt." Der Grünen-Abgeordnete Volker Beck erklärte, eine Regierung dürfe nicht ihre gesamte Bevölkerung als kriminell betrachten. "SPD und Union haben aus der NSA-Affäre offensichtlich nichts gelernt."
SPD macht Rückzieher bei Managergehältern
Eine Bremse für die Gehälter von Managern wird es nicht geben. "Um Transparenz bei der Feststellung von Managergehältern herzustellen, wird über die Vorstandsvergütung künftig die Hauptversammlung auf Vorschlag des Aufsichtsrats entscheiden", heißt es im Vertragsentwurf. Die alte Version sah noch vor, dass der Aufsichtsrat börsennotierter Unternehmen verpflichtet werden soll, "ein Maximalverhältnis zwischen der Gesamtvergütung der einzelnen Vorstandsmitglieder und dem durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommen" des jeweiligen Unternehmens festzulegen. Diese Passage wurde gestrichen.
Nach Informationen der "Frankfurt Allgemeinen Zeitung" hat die SPD in letzter Minute einen Rückzieher gemacht. Bundeskanzlerin Angela Merkel habe Bedenken geäußert, dass durch die Veröffentlichung einer Verhältniszahl eine Neiddebatte geschürt werde.
Steuer für möglichst alle Finanzprodukte
Union und SPD wollen mit der angestrebten Finanztransaktionssteuer möglichst alle Finanzprodukte erfassen, damit Profi-Anleger sich nicht vor der Abgabe drücken können. "Eine solche Besteuerung sollte möglichst alle Finanzinstrumente umfassen, insbesondere Aktien, Anleihen, Investmentanteile, Devisentransaktionen sowie Derivatekontrakte", heißt es im Vertragsentwurf.
Belastungen für Kleinanleger etwa bei der Altersvorsorge mit Riester-Verträgen sollen vermieden werden. Besonders riskante Anlage-Angebote sollen vom Markt zurückgedrängt werden. Wie hoch die Abgabe ausfallen soll, ist offen. Union und SPD peilen einen "niedrigen Steuersatz" an.
Die seit Jahren diskutierte Steuer soll nun zügig kommen. Neben Deutschland sind bisher zehn weitere EU-Länder dafür. Ihnen winken nach einer Schätzung der EU-Kommission insgesamt Einnahmen von jährlich 34 Milliarden Euro. Nach früheren Brüsseler Vorschlägen sollte der Handel mit Aktien, Anleihen und Fondsanteilen mit 0,1 Prozent des Verkaufspreises belastet werden. Bei Termingeschäften würden 0,01 Prozent fällig.
Die größte Hürde kommt erst noch
Doch selbst wenn alle offenen Fragen in der kommenden Nacht geklärt werden, bleibt eine letzte große Hürde für die Möchtegernkoalitionäre: der Mitgliederentscheid der SPD. Bis zum 12. Dezember müssen die Voten der Mitglieder eingegangen sein, am 14. Dezember soll ausgezählt werden.
Nach Informationen der "Bild"-Zeitung haben sich Union und SPD darauf geeinigt, in den finalen Koalitionsgesprächen auf die konkrete Besetzung der Ministerposten zu verzichten. SPD und Union wollten erst nach der SPD-Mitgliederbefragung Namen für die Posten präsentieren. Dies war zuvor von SPD-Politkern mit Blick auf den Mitgliederentscheid gefordert worden.
Quelle: ntv.de, hvo/dpa/rts/AFP