
In den Tagen nach dem Feuer schliefen viele Moria-Bewohner auf der Straße - auch aus Misstrauen gegenüber dem geschlossenen Nachfolge-Lager.
(Foto: REUTERS)
Das Feuer in Moria verschafft der hoffnungslosen Lage zehntausender Menschen in Europas Flüchtlingslagern neue Aufmerksamkeit. Eine Lösung ist nicht absehbar, weil viele verschiedene Akteure verantwortlich sind. Eine Übersicht des Versagens.
Europas hässliches Gesicht zeigt sich ausgerechnet dort, wo seine Bewohner gerne Urlaub machen: Die Zustände im überfüllten Flüchtlingslager Moria und anderen Registrierungszentren auf den griechischen Ägäis-Inseln sind in den vergangenen Jahren und Monaten bereits unzählige Male von Geflüchteten und zahlreichen Hilfsorganisationen als menschenunwürdig angeprangert worden. Das Elend auf den Straßen von Lesbos, als plötzlich tausende Moria-Bewohner plötzlich ohne Dach über dem Kopf waren, hat es innerhalb der Europäischen Union wohl nur selten gegeben. Das gleiche gilt für Polizisten, die mit Tränengas auf Ansammlungen unbewaffneter Menschen mit Kindern feuern.
Die Frage nach der Verantwortung für diese Krise aber führt bislang nicht zu einer humanitären Lösung. Stattdessen schieben die europäischen Regierungen jeweils anderen die Schuld für das Leid der Geflüchteten zu. Dabei hat beinahe jeder in Frage kommende Akteur seinen Anteil an dem Drama. Denn die in europäischen Sonntagsreden gepriesene Solidarität ist in Fragen der Flüchtlingspolitik schlicht inexistent - auch in Deutschland, das in den letzten Jahren so viele Menschen aufgenommen hat.
Die Schuld der Geflüchteten
Gegner einer Aufnahme der Moria-Flüchtlinge argumentieren, dass das Lager von den Bewohnern angesteckt worden sein könnte. Die EU aber dürfe sich von Brandstiftern nicht erpressen lassen. Dieses Argument nimmt nicht nur sämtliche Moria-Bewohner in Mithaftung für einige wenige, sofern es sich bei den Tätern überhaupt um Camp-Bewohner handelt. Es verkennt auch Ursache und Wirkung: In Moria und anderen Camps war es in der Vergangenheit immer wieder zu Unruhen und Sachbeschädigungen gekommen, weil die Lager schlicht überfüllt sind und bei den Menschen die Nerven blank liegen nach Monaten und Jahren des Ausharrens im Dreck. Dass die griechischen Behörden nach dem Auftreten von Corona-Fällen das ganze Camp statt einzelner Infizierter isolieren wollten, wirkte wohl als Funken im Pulverfass. Das rechtfertigt sicherlich keine Brandstiftung. Andererseits sind die größten Leidtragenden die Camp-Bewohner selbst. Viele verloren ihre letzte Habe und erlitten mit dem Feuer ein weiteres traumatisches Ereignis.
Wer argumentiert, die Menschen hätten sich ja gar nicht erst nach Europa aufmachen müssen, verkennt ebenfalls die Lage: Die Anerkennungsquote bei Erstanträgen auf einen Flüchtlings-, Schutz- oder Asylstatus liegt seit 2015 relativ stabil bei um die 50 Prozent - in Griechenland genauso wie in Deutschland. Obwohl die EU-Länder seit Jahren einen großen Andrang erleben, kommen sie nicht umhin, bei einem hohen Anteil der Menschen Fluchtgründe wie Krieg oder persönliche Verfolgung anzuerkennen. Sie haben sich eben mit gutem Grund auf den Weg in die EU gemacht, obwohl ihnen das Erreichen ihres Ziels möglichst schwer gemacht wird. Schon im Vorfeld sämtliche Menschen aus Europa fernzuhalten, die keine Chance auf einen Aufenthaltsstatus haben, ohne die Berechtigten ebenfalls auszuschließen: Dafür gibt es bislang kein Konzept.
Die Schuld Griechenlands
Menschenrechtsorganisationen werden bei aller Kritik an den Zuständen nicht müde zu betonen, wie wohlwollend und tolerant sich viele Griechen den zahlreichen Geflüchteten gegenüber verhalten haben. Und das, obwohl das Land seit Jahren selbst schwere Wirtschaftsprobleme hat. In den vergangenen zwei Jahren aber scheint die Stimmung insbesondere auf den Ägäis-Inseln zu kippen. Die Bewohner fürchten Einbußen beim Tourismus, es herrschen teils berechtigte, teils diffuse Ängste vor gestiegener Kriminalität und Krankheiten. Hinzu kommt der Anblick des Elends, den die Griechen stellvertretend für Europa aushalten müssen. Dabei war die Zahl der Neuankömmlinge in den vergangenen Jahren relativ niedrig.
Seit Inkrafttreten des EU-Türkei-Deals im Frühjahr 2016 bis zum Frühjahr 2020 kamen 144.000 Menschen über den Seeweg nach Griechenland - so viele Menschen wie allein im ersten Quartal 2016 beziehungsweise ein Drittel der 419.000 Menschen, die im vierten Quartal 2015 übers Meer kamen. Auch wenn die Zahlen gesunken sind, eines ist gleich geblieben: Die Aufteilung der in Griechenland und anderen EU-Außenländern ankommenden Flüchtlinge innerhalb der EU funktioniert nicht, weshalb Athen auf den meisten Migranten sitzen bleibt - obwohl die allermeisten von ihnen nach Westeuropa wollen. Das Dublin-III-Abkommen aber verpflichtet Asyl- und Schutzsuchende, in dem Land ihren Antrag zu stellen, wo sie als erstes EU-Boden betreten haben.
Mindestens drei Hebel hat Athen, um die Menschen dennoch loszuwerden:
- Über das EU-Türkei-Abkommen hat sich Ankara 2016 zur Rücknahme von Flüchtlingen verpflichtet, die trotz geschlossener Grenzen über die Ägäis nach Europa gekommen sind. Die Türkei nimmt aber nur Menschen von den griechischen Inseln zurück, nicht vom griechischen Festland. Es ist also durchaus in Athens Interesse, Migranten auf den Inseln zu behalten. Allerdings mit bescheidenem Erfolg: Gerade einmal 2735 Menschen hat die Türkei in mehr als vier Jahren zurückgenommen.
- Erfolgreicher ist das Programm zur freiwilligen Rückkehr ins Heimatland. Seit 2016 verließen so 4020 Menschen die Inseln. Naheliegend ist: Je hoffnungsloser die Situation im griechischen Flüchtlingslager, desto größer die Bereitschaft zur Umkehr. Verschiedentlich haben Menschenrechtsorganisationen der griechischen Regierung solch ein Kalkül unterstellt.
- Und: Je schlechter die Bedingungen und je langwieriger die Antragsverfahren in Griechenland, desto eher lassen sich andere EU-Länder erweichen, Migranten, die nach Dublin-Kriterien in Griechenland antragspflichtig sind, bei sich aufzunehmen. Diese Möglichkeit sieht der Vertrag in Artikel 3 Absatz 2 ausdrücklich vor. So hatte es auch Deutschland auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise gehandhabt und insbesondere über die Balkanroute gekommene Syrer nicht zurückgewiesen.
Der Vorwurf einer absichtlich schlechten Behandlung der Flüchtlinge lässt sich nur schwer beweisen. Allerdings gibt es Indizien. Trotz massiver Hilfen der EU, etwa durch die Abstellung von inzwischen 1000 Mitarbeitern für die Antragsbearbeitung, stauen sich in Griechenland die unbearbeiteten Anträge. Ende 2019 waren rund 87.000 Verfahren offen, obwohl im Gesamtjahr nur 77.000 gestellt wurden. Auf den Ägäis-Inseln harrten - Stand 15. September - noch mehr als 26.000 Migranten aus, obwohl in diesem Jahr nur 9000 Menschen übers Meer gekommen sind.
Und noch etwas spricht gegen den aufrichtigen Willen Athens, die Migranten mit berechtigtem Schutzbedarf bei sich aufzunehmen: Von den 2,6 Milliarden Euro, die die EU seit 2015 Griechenland bereitgestellt hat, wurden 700 Millionen Euro nicht abgerufen. Und zwar vornehmlich Geld aus einem Topf, der für die Integration der Flüchtlinge vorgesehen ist, dem sogenannten Asyl, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF).
Die Schuld der EU
Mit dem Verweis auf die bereitgestellten 2,6 Milliarden Euro betonen Brüssel und die übrigen EU-Staaten gerne die griechische Verantwortung für die Misere. Das ist aber aus zwei Gründen unaufrichtig: Erstens weiß man auch in den 26 anderen europäischen Hauptstädten, dass die meisten Zuwanderer nicht in Griechenland bleiben wollen, sondern nach Westeuropa streben. Zweitens entstammt ein Fünftel des Geldes dem EU-Fonds für innere Sicherheit (ISF) und wurde auf den EU-Grenzschutz verwendet, wie etwa dem Ausbau der Küstenwache.
Mit Unterstützung der EU-Grenzschutzagentur Frontex kommt Griechenland die Aufgabe zu, Migranten am unerlaubten Zutritt zur EU zu hindern. Dabei ist es in den vergangenen Jahren wiederholt zu eklatanten Rechtsbrüchen gekommen: Es gibt Berichte über Flüchtlingsboote, die fahruntüchtig gemacht und danach in türkische Gewässer geschleppt und sich selbst überlassen wurden. Die "New York Times" deckte zudem geheime Lager auf, in denen Flüchtlinge festgehalten und in Nacht-und-Nebel-Aktionen über die Grenze zur Türkei gebracht wurden - ohne ordentliche Prüfung ihres Schutzanspruches. Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR hält die Berichte für glaubwürdig. Dass die EU, insbesondere Frontex, von solchen sogenannten Pushbacks nichts wissen soll, halten Experten für unwahrscheinlich.
Auch wenn die EU solche Praktiken nicht gutheißen mag, drängt das Dublin-III-Abkommen die Mitgliedsstaaten an den Außengrenzen in die Ecke: Entweder nehmen sie zum Unmut der eigenen Bevölkerung hohe Zahlen an Migranten auf oder sie wehren diese ab. Die von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zum vergangenen Februar Angekündigte Dublin-Reform lässt bislang auf sich warten. Nun soll es im Herbst soweit sein, was auch der Zielstellung der Bundesregierung entspricht: noch während der laufenden Ratspräsidentschaft zumindest grobe Züge einer Reform festzuzurren. Ob das angesichts der immensen Uneinigkeit in der EU gelingt, ist ungewiss. Zur Debatte stehen unter anderem Asylzentren außerhalb Europas sowie finanzielle Anreize für EU-Mitgliedstaaten, die Flüchtlinge aufnehmen.
Die Schuld der EU-Länder
Ein Umverteilungsmechanismus, der die Last zu gleichen Teilen schultert, ist bisher nicht umgesetzt worden. Die 2015 beschlossene Umverteilung von 160.000 Flüchtlingen aus Griechenland und Italien innerhalb der EU stockt bei 35.000 - vor allem weil die osteuropäischen EU-Staaten eine Aufnahme ablehnen. Entsprechend ungleich verläuft die Verteilung der Migranten in Europa: Deutschland nahm 2019 mehr als 65.000 Menschen auf, Griechenland erkannte mehr 17.000 Flüchtlinge an, während Polen 2019 rund 230 Menschen einen Schutzstatus zuerkannte, ohne Menschen aus anderen EU-Ländern aufzunehmen.
Auch bei der Frage nach der Nothilfe für die Menschen in Moria zeigt sich die EU uneins. Deutschland nimmt 2750 Menschen von den griechischen Inseln auf, davon 1553 zusätzlich nach dem Moria-Feuer. Aus den übrigen Ländern kommt zumeist nichts, sagt Bundesinnenminister Horst Seehofer. Weitere Menschen sollen hinzukommen, wenn sich Europa auf ein gemeinsames Aufnahmekontingent verständigen sollte.
Die Schuld Deutschlands
In der Moria-Krise gehört Deutschland zu den wenigen EU-Ländern, die in nennenswerter Zahl Menschen von den griechischen Inseln aufnehmen. Bei der von Innenminister Seehofer als Ziel formulierten Obergrenze von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr ist noch deutlich Luft. Sie wurde auch in den vergangenen Jahren nicht erreicht. 2019 wurden 142.500 Erstanträge auf Flüchtlingsstatus oder Asyl gestellt und über 183.000 Anträge wurde eine Entscheidung getroffen. Davon wurden 54.000 abgelehnt und 60.000 nach Dublin-Kriterien abgelehnt, weil die Antragsteller woanders als im Ersteinreiseland antragspflichtig waren.
Deutschland nimmt in absoluten Zahlren relativ viele Menschen geordnet auf und leistet insbesondere mit Blick auf minderjährige Alleinreisende und Familien mit Kindern einen humanitären Beitrag. Der Bundesregierung ist es aber seit 2015 trotz anderslautender Ankündigungen nicht gelungen, eine neue europäische Flüchtlingspolitik auf den Weg zu bringen. Für einen erneuten Massenandrang wie 2015 gäbe es weiterhin keine Lösung.
Das mag auch daran liegen, dass Deutschland vom Dublin-III-Abkommen profitiert. Es lastet den EU-Außenstaaten den Hauptteil der Lasten auf - die auch moralisch schwierige Abwehr von Migranten - obwohl viele davon nach Deutschland wollen. Zu den harschen, teils völkerrechtswidrigen Methoden, die in der Ägäis Anwendung finden, schweigt die Bundesregierung. Gleichzeitig schickt sie Migranten nach dem Dublin-Verfahren in die EU-Außenstaaten zurück und bestraft sie so für jeden irregulären Einwanderer, der nicht schon auf See zur Umkehr gezwungen worden ist.
Fazit
Weder Athen und Berlin noch die EU und ihre übrigen Mitgliedsländer haben seit dem Krisenjahr 2015 substanzielle Fortschritte in der Flüchtlingspolitik erzielt. Mit einer Ausnahme: Durch den forcierten Ausbau des Grenzschutzes sowie durch fragwürdige Abkommen mit Ländern wie der Türkei und Libyen wurde den Menschen das Erreichen Europas deutlich erschwert. Auch jenen, die dringend Schutz vor Krieg und Verfolgung benötigen. Maßgeblich ist dabei offenbar, dass in den meisten EU-Ländern die Bereitschaft, Kriegsflüchtlinge und Asylbewerber aufzunehmen, begrenzt oder gar nicht vorhanden ist. Zugleich werden die seit Jahren weltweit steigenden Flüchtlingszahlen durch die Auswirkungen des Klimawandels eher noch zunehmen. Bleibt es also bei der restriktiven Haltung einer vermeintlichen Mehrheit der europäischen Bürgerinnen und Bürger, werden Bilder wie jene aus Moria in Zukunft eher die Regel als die Ausnahme.
Quelle: ntv.de