Reisners Blick auf die Front "Die erste Welle der Russen ist reines Kanonenfutter"
29.01.2024, 19:21 Uhr Artikel anhören
Die Ukraine und Russland sind im Stellungskrieg, doch wenn es ein paar Meter voran geht, dann für Putins Truppen. Wie schaffen sie das, wenn Drohnen ständig und überall das Gefechtsfeld aufklären? Antworten liefert Oberst Reisner bei ntv.de.
ntv.de: Herr Reisner, wie sieht die Front in der Ukraine derzeit aus?
Markus Reisner: Wir sehen aktuell Angriffe entlang der gesamten Front und - trotz hoher Verluste - auch gelungene Einbrüche, zum Teil auch lokale Durchbrüche der Russen. Im Raum südostwärts von Kupjansk konnte man bei Tabaivka fünf Kilometer tief in die ukrainischen Verteidigungsstellungen einbrechen. Ziel ist hier offenbar, den Fluss Oskil zu erreichen und den ganzen Bereich ostwärts davon in Besitz zu nehmen. Auch weiter südlich, bei Terny sind die russischen Truppen einen Kilometer vorgestoßen, dann wurde der Angriff gestoppt. Schwere Kämpfe sehen wir auch in den Regionen Swatowe, Lyman, Bachmut und Marjinka. Bei Bachmut hatten die Ukrainer während der Sommeroffensive Gelände gewonnen, das erobern die Russen nun Meter für Meter wieder zurück. Bei Awdijiwka haben die Russen nördlich und südlich der Stadt Raum gewonnen.
First-Person-View-Drohnen, also mit Kameras bestückte Drohnen, die dem Soldaten einen so direkten Blick auf das Gefechtsfeld ermöglichen, als säße er selbst im Gerät drin, haben derzeit einen starken Effekt auf das Gefechtsfeld. Beide Seiten überblicken das Schlachtfeld so genau, dass keiner ein Überraschungsmoment erschaffen kann. Warum können die Russen trotzdem Geländegewinne erzielen?
Wenn wir uns als Beispiel das Schlachtfeld bei Awdijiwka anschauen: Den Raum südlich der Stadt haben die Russen gewonnen, indem sie offenbar einen unterirdischen Tunnel benutzt haben. Durch den sind sie hinter die ukrainischen Stellungen gelangt und konnten von dort aus die Ukrainer dann überraschen.
Wie sieht es an den anderen Frontabschnitten aus, wo die Russen erfolgreich sind? Wie schaffen sie das dort?
Was die verfügbaren Soldaten angeht, haben wir derzeit eine gewisse Parität an der Front, die Situation ist also im Gleichgewicht. Massiv im Nachteil sind die Ukrainer aber bei der verfügbaren Munition - für Artillerie, aber auch für Kampfpanzer und Fliegerabwehrsysteme. Das ist das, was die Ukraine an der Front braucht, um die Russen zumindest auf Distanz zu halten. Je mehr sich die Vorräte dort reduzieren, desto leichter ist es den Russen möglich, die Oberhand zu gewinnen - trotz der schweren Verluste, die sie dabei machen. Aber wir haben ja schon erkannt, dass humane Verluste, also Soldatenleben, für die Russen kein Parameter sind - kein Grund, ihre Angriffe in irgendeiner Weise danach auszurichten.
Wie geht man denn als russischer Kommandeur auf dem Schlachtfeld vor, wenn die Maßgabe aus Moskau lautet: "Auf Menschenleben musst du keine Rücksicht nehmen"?
Im Netz kursieren sehr viele Videos, täglich produziert von beiden Seiten, um ihre jeweiligen Angriffs- oder eben Abwehrerfolge zu zeigen. Aus diesen Filmen kann ich einiges ableiten, wenn ich die russische Einsatzführung dort betrachte. Zu Beginn setzen die Russen massiv Artillerie und Kamikaze-Drohnen ein und schicken in einer ersten Welle Truppen nach vorne. Diese Soldaten laufen direkt ins Feuer der Ukrainer. Dieses Vorgehen dient vor allem dazu, die ukrainischen Stellungen zu identifizieren. Dann folgt noch einmal Artillerie, noch einmal Kamikazedrohnen und schließlich greift man in einer zweiten Welle mit frischen Soldaten massiv. So gewinnen die Russen Gelände, marschieren vor, Meter für Meter.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres. Jeden Montag analysiert er für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.
(Foto: ntv)
Mit anderen Worten: Die Russen schicken Truppen vor, die keine andere Funktion haben, als Zielscheiben für die ukrainischen Verteidiger zu sein? Und wenn die Ukrainer diese russischen Soldaten abschießen, sieht man, von wo aus sie feuern, und die Russen wissen: Aha, dort ist eine ukrainische Stellung. Das ist die Taktik?
Genau. Die Videos zeigen auch, dass die Russen eher untergeordnete Einheiten in diesen ersten Angriffen einsetzen. Truppen, die zu einem hohen Grad mit Reservisten befüllt sind, eine schlechtere Ausbildung haben. Sie sind reines Kanonenfutter. In der nächsten Phase werden gezielt diese erkannten Verteidigungsstellungen der Ukrainer angegriffen, bevor es zu einem neuerlichen Angriff kommt, zu einer zweiten Welle. Hier ist erkennbar, dass die Soldaten wesentlich besser ausgebildet sind als die der ersten Welle. Das erinnert übrigens an die Taktik der Sowjetarmee im Zweiten Weltkrieg: Damals hat man auch oft zunächst schlecht ausgebildete Soldaten als Kanonenfutter nach vorn geschickt, damit die deutsche Seite für die Abwehr Munition verbraucht und sich die Bestände reduzieren. Dann erst hat die Elite angegriffen. Dieses Element aus der Militärkultur der russischen Streitkräfte ist also noch aus der Zeit der Sowjetunion erhalten.
Wie reagiert die Ukraine, um das Gelände trotz knapper Munition zu verteidigen?
Wir beobachten derzeit, wie die ukrainische Seite Reserven aufstellt, und hier sticht die Aufstellung des siebten Luftsturm-Korps heraus. Das ist offensichtlich der Versuch, auf operativer Ebene verlegbare Reserve-Einheiten zu bilden. Diese Truppen agieren also als eine Art Frontfeuerwehr, die schnell verfügbar ist, wenn sie gebraucht wird, um den angreifenden Russen etwas entgegenzusetzen.
Wenn wir noch mal auf die starke Bedeutung der Drohnen zurückkommen: Wie sind da die Verhältnisse inzwischen? Kann die Ukraine den russischen Vorsprung aufholen?
Russlands Industrie, zumal in Kriegswirtschaft, ist deutlich leistungsfähiger als die der Ukraine. Moskau zielt darauf ab, 100.000 Kamikaze-Drohnen pro Monat zu erzeugen. Auch dank der Unterstützung durch den globalen Süden, China etwa, hat Russland gute Chancen, sein Ziel auch zu erreichen. Kiew hat sich vorgenommen, dieses Jahr 50.000 Kamikaze-Drohnen monatlich zu produzieren.
50.000 Drohnen - das klingt aber auch schon nach industrieller Produktion, nicht mehr nach Basteln im Hinterhof wie noch vor Monaten?
Die Ukraine erzeugt einerseits Drohnen, die tief nach Russland hineinfliegen können. Da ist die produzierte Stückzahl noch relativ gering. Die kleinen First-Person-View-beziehungsweise Kamikaze-Drohnen hingegen, die aktuell das Gefechtsfeld beherrschen, die kommen aus dem 3D-Drucker. Sie sind rasch mit vorgefertigten Bauteilen zu produzieren und werden von der Ukraine quasi schon als Ersatz für die fehlenden Artilleriegranaten eingesetzt. Kiew zieht in den militärischen Produktionsstätten, die es bereits gibt, die Fertigung hoch und fordert gleichzeitig die Bevölkerung zur Mithilfe auf. Jeder Ukrainer soll quasi im eigenen Haushalt versuchen, eine Drohne zu erzeugen und abzuliefern, damit sie an der Front eingesetzt wird. Im Internet kann man sich dafür Baupläne herunterladen. Es wird also viel getan, aber im Vergleich zu Russlands Ressourcen klingt es noch immer eher provisorisch.
Ein Wort zu Russlands Ressourcen: Die kann Moskau so massiv ausbauen, trotz westlicher Sanktionen?
Schauen Sie sich den Iran an, ein Land, das unter einem sehr strengen Sanktionsregime leidet. Trotzdem konnte er sich zu einer Drohnen-Supermacht entwickeln und sendet seine Drohnen zur Unterstützung an die Huthis, liefert der Hamas Bauteile, schickt sie der Hisbollah in den Südlibanon und unterstützt Russland im großen Stil. Die Russen haben jetzt auch ein eigenes Drohnen-Werk errichtet, Zielvorgabe sind 300 bis 350 Stück im Monat. Viele der notwendigen Bauteile kommen unseres Wissens aus China, aber manche, und das ist wirklich ernüchternd, finden ihren Weg auch aus Europa nach Russland. Über Subfirmen oder Rattenlinien.
Rattenlinien?
Wege, auf denen kostbares Gut von A nach B hinter dem Rücken bestehender Sanktionen transportiert wird. Etwa über Drittstaaten, die nicht sanktioniert sind. Wenn wir Öl als Beispiel nehmen: Indien kauft in Russland Öl, lädt es auf seine Tanker, die fahren ins Mittelmeer. Dort wird es auf andere Tanker umgeladen und kommt zum Beispiel nach Europa. Nordkorea, ein weiteres Beispiel, hat Russland im vergangenen Jahr eine Million Artilleriegranaten geschickt. Satellitenaufnahmen zeigen, wie das Material mit nordkoreanischen Schiffen oder Zügen nach Russland transportiert wird.
Der Westen diskutiert mögliche Waffenlieferungen immer auch vor dem Hintergrund des zeitlichen Aufwands, wie viele Monate oder gar Jahre es also dauern würde, bis neu produzierte Kampfpanzer oder Flugabwehrsysteme der Ukraine zur Verfügung stehen würden. Dagegen sollten Drohnen aus dem 3D-Drucker im Handumdrehen produzierbar sein. Wo bleiben da die westlichen Lieferungen?
Sie dürfen nicht vergessen: Die russische Kriegswirtschaft produziert auf Kommando. Die europäische Rüstungsindustrie ist vor allem privatwirtschaftlich strukturiert und organisiert. Die Konzerne produzieren nur, wenn es Abnahmezusagen gibt, wenn also sicher Gelder fließen. Entsprechend müssten die Regierungen die Rüstungsindustrie fragen: Was für Kapazitäten habt ihr, und was könnten wir hier gemeinsam tun? Das passiert aber nicht. Es gibt zwar Zusagen und Bestellungen, aber nicht in dem Umfang, dass es wirklich einen Unterschied machen würde im Vergleich zu dem, was Russland, Nordkorea oder andere zwischenzeitlich machen. Bei Marschflugkörpern verhält es sich ähnlich: Man nimmt an, dass Russland momentan circa 900 Marschflugkörper verfügbar hat und die Produktionsrate bereits 115 bis 130 pro Monat beträgt.
Während Deutschland jetzt seit acht Monaten diskutiert, ob man einmalig 150 Taurus-Marschflugkörper in die Ukraine schickt. Wie nutzt Russland seine Ressourcen?
Für sie ergibt sich die Möglichkeit, circa alle zehn bis 14 Tage einen massiven Angriff durchzuführen, bei dem die Flugabwehr durch iranische Drohnen gesättigt wird und dann die Marschflugkörper durchstoßen können. Wenn die ukrainische Flugabwehr von zum Beispiel zehn Raketen acht abschießen kann, stoßen immer noch zwei durch und treffen das Ziel. Die Fliegerabwehr, die hier zum Einsatz kommt, um die Infrastruktur gegen solche Angriffe zu schützen, fehlt zugleich an der Front. Täglich kommen neue Videos von dort, die zeigen, wie russische Kampfflugzeuge ukrainische Stellungen mit Gleitbomben angreifen. Hier hat die Ukraine kaum Systeme, um sich zur Wehr zu setzen, weil die Front so lang, das Land so groß ist. Darum auch die massiven Forderungen immer wieder in diese Richtung. Ein Abnutzungskrieg wird vor allem über die Ressourcen entschieden.
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de