Dossier

Misere in Frankreichs Gefängnissen 80.000 Verurteilte auf freiem Fuß

In Frankreich sitzen derzeit 10.000 Menschen mehr im Gefängnis als offziell Plätze vorhanden sind. Wegen der Überfüllung kommen viele Verurteilte gar nicht erst hinter Gitter. Daher will die französische Justizministerin eine Gefängnisreform auf den Weg bringen.

Michèle Alliot-Marie setzt sich für kürzere Haftstrafen durch elektronische Fußfesseln und gemeinnützige Arbeit ein.

Michèle Alliot-Marie setzt sich für kürzere Haftstrafen durch elektronische Fußfesseln und gemeinnützige Arbeit ein.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Wer in Frankreich zu einer Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt wird, muss deswegen noch lange nicht ins Gefängnis. Die Gefängnisse sind so überfüllt und die Verwaltungswege so verschlungen, dass derzeit mehr als 80.000 verurteilte Täter weiterhin auf freiem Fuß sind. Die Misere in den französischen Gefängnissen spitzt sich weiter zu. In den vergangenen Monaten wurde der Staat wegen unhaltbarer Haftbedingungen bereits mehrfach zu Entschädigungszahlungen an ehemalige Insassen verurteilt. "Es sind enorme Anstrengungen nötig, um europäische Standards in unseren Gefängnissen zu erfüllen", gestand vor kurzen Justiz-Staatssekretär Jean-Marie Bockel.

Der jüngste Bericht eines Gutachters über ein Gefängnis in Rouen liest sich mit Schaudern: "Die Toilette ist nicht von dem Bereich abgetrennt, in dem gegessen wird. Es gibt keine Lüftung. Das Toilettenbecken hat keinen Deckel. Töpfe und Essgeschirr werden in einigen Haftzellen in unmittelbarer Nähe der Toilette untergebracht." Im vergangenen Jahr erregte ein heimlich in einem Gefängnis gedrehtes Video Aufsehen, das ähnliche Zustände zeigt.

Familie verklagt Gefängnis

Im Schnitt bringt sich fast jeden dritten Tag ein Häftling in Frankreich um, wobei ein kausaler Zusammenhang mit den Haftbedingungen allerdings kaum nachweisbar ist. In der vergangenen Woche haben Angehörige eines 32-Jährigen eine Klage wegen Totschlags und unterlassener Hilfeleistung eingereicht. Der zu einer viermonatigen Haftstrafe Verurteilte hatte sich mit einem Bettlaken in der Zelle erhängt - so die offizielle Version, die die Familie nicht akzeptieren will.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Frankreich bereits mehrfach gemahnt, die Situation in den Gefängnissen zu verbessern. Eines der Hauptprobleme ist die Überfüllung. Derzeit sind etwa 63.000 Menschen in Frankreich inhaftiert - rund 10.000 mehr als offiziell Plätze vorhanden sind. Ein Grund dafür sind die verschärften Strafen für Wiederholungstäter, für die Präsident Nicolas Sarkozy sich eingesetzt hat.

Schlechte Haftbedingungen als Teil der Strafe

In diesem Jahr sollen 5000 zusätzliche Plätze geschaffen werden, doch der Ausbau der Gefängnisse darf nach Ansicht von Premierminister François Fillon nicht die einzige Lösung sein. "Wir haben zu lang gemeint - ohne es uns einzugestehen - dass die schlechten Haftbedingungen Teil der Strafe sind", kritisierte er kürzlich. "Das war ein Fehler. Zudem haben wir vergessen, uns um die Wiedereingliederung von Straftätern in die Gesellschaft zu kümmern."

Die neue Justizministerin Michèle Alliot-Marie, die die für ihre Glamour-Auftritte bekannte Rachida Dati abgelöst hat, will bis Ende des Jahres eine Gefängnisreform auf den Weg bringen. Demnach sollen vor allem kürzere Haftstrafen durch elektronische Fußfesseln oder gemeinnützige Arbeit ersetzt werden.

Es sei nicht akzeptabel, dass ein Teil der Gefängnisstrafen gar nicht verbüßt werde und manche Verurteilte erst drei Jahre nach dem Urteil ins Gefängnis kämen, meint Alliot-Marie. "Die Strafen müssen zügig abgebüßt werden, damit unsere Justiz glaubhaft bleibt", meint sie.

Quelle: ntv.de, Ulrike Koltermann, dpa

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