Erdogan nicht ausgeschaltet AKP droht Verbot
30.06.2008, 16:08 UhrDas Verbotsverfahren gegen die türkische Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan geht in die entscheidende Phase. Am Dienstag hält Generalstaatsanwalt Abdurrahman Yalkcinkaya vor dem Verfassungsgericht in Ankara sein Schlussplädoyer. Er verlangt die Auflösung der AKP wegen islamistischer Tendenzen und zugleich ein fünfjähriges politisches Betätigungsverbot für Erdogan sowie andere führende AKP-Politiker. Eine AKP-Delegation wird am Donnerstag Gelegenheit zu einem Schlusswort haben. Ein Urteil könnte schon in wenigen Wochen gesprochen werden. Die meisten Beobachter rechnen mit einem Verbot der AKP.
Yalcinkaya argumentiert, die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) habe unter anderem durch ihren Vorstoß zur Legalisierung des Kopftuches für muslimische Studentinnen gezeigt, dass sie die laizistischen Grundsätze der Republik nicht achte. Das Verfassungsgericht hatte erst vor kurzem eine von der AKP durchgesetzte Verfassungsänderung zur Kopftuchfrage als anti-laizistische Initiative gewertet und annulliert.
Anatolische Bourgeoisie stört Kemalisten
Die AKP, die bei weitem größte Partei des Landes, bestreitet die Vorwürfe des Chefanklägers und spricht von einer politisch motivierten Kampagne der kemalistischen Eliten. Die Kemalisten, die sich auf Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk berufen, hatten lange Zeit die wichtigsten Machtpositionen der Türkei inne und sind vor allem in der Armee, der Justiz und Teilen der Bürokratie nach wie vor die bestimmende Kraft. Seit einigen Jahren wird ihre Machtstellung allerdings von der sogenannten "anatolischen Bourgeoisie" in Frage gestellt, die aus frommen Muslimen wie Erdogan besteht.
Selbst viele AKP-kritische Experten bezweifeln, dass Yalcinkaya in seiner Anklageschrift überzeugende Argumente für eine Verfassungsfeindlichkeit der AKP dargelegt hat. Auch die EU betrachtet das Verfahren gegen die AKP als politische Vendetta. Einige Fachleute haben die Möglichkeit ins Spiel gebracht, dass das Verfassungsgericht von einem Verbot der Regierungspartei absehen und stattdessen finanzielle Sanktionen gegen die AKP verhängen könnte.
Neue Partei in petto
Das Verbotsverfahren gegen die AKP schreitet wesentlich schneller voran, als das bei bisherigen Prozessen gegen türkische Parteien üblich war. Deshalb könnte ein Urteil schon Ende Juli oder Anfang August fallen. Die AKP fordert eine möglichst rasche Entscheidung des Gerichts, damit sie sich gegebenenfalls auf vorgezogene Neuwahlen vorbereiten kann.
Presseberichten zufolge arbeitet Erdogan hinter den Kulissen bereits am Aufbau einer neuen Partei, die als Auffangbecken für die AKP-Wähler dienen könnte. Erdogans eigene Karriere wäre selbst nach einem möglichen Politikverbot nicht notwendigerweise zu Ende. Ähnliche Verbote in der Vergangenheit bezogen sich lediglich auf eine parteipolitische Betätigung - wenn sich das Gericht an diese Vorbilder hält, könnte Erdogan bei einer vorgezogenen Neuwahl als unabhängiger Kandidat erneut ins Parlament einziehen und auch wieder Ministerpräsident werden.
Nach allen Umfragen kann die AKP damit rechnen, auch unter einem neuen Namen die stärkste Kraft der Türkei zu bleiben. Derzeit kommt die Partei, die bei den Parlamentswahlen 2007 fast 47 Prozent der Stimmen gewann, je nach Umfrage auf 40 bis 50 Prozent. Die größte Oppositionspartei, die kemalistische CHP, erreicht etwa 20 Prozent.
Thomas Seibert, AFP
Quelle: ntv.de