Koalitionsvertrag mit Lücken Alter Streit, neue Duz-Freunde
24.10.2009, 20:16 UhrDen gelben Schlips konnte sich FDP-Chef Guido Westerwelle nicht verkneifen. Und auch nicht, bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags von Union und FDP gleich im dritten Satz darauf hinzuweisen, dass der 130 Seiten dicke Text eine "starke liberale Handschrift" trage.
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) nahm den selbstbewussten Auftritt ihres neuen Vizekanzlers und Außenministers gelassen hin. Denn welche Handschrift die nächsten vier Regierungsjahre prägen wird, ist längst nicht ausgemacht. Die Formulierungen zu den strittigen Themen Steuern und Gesundheit lassen noch einigen Spielraum - auch für künftige Koalitionskräche.
Zunächst aber stand am Samstagmittag die Freude im Vordergrund. Westerwelle schlug seinem neuen Duzfreund Horst Seehofer (CSU) lächelnd auf die Schulter, Merkel sprach von "Mut und Lust" auf die Arbeit der neuen Regierung. Und auch, dass nach den fast zwölfstündigen Schlussverhandlungen in der Nacht zuvor noch das ein oder andere Bier zusammen im Keller der nordrhein-westfälischen Landesvertretung getrunken worden sei, wurde berichtet.
Einigung am frühen Morgen
Kurz vor dem versöhnlichen Ende allerdings waren die Verhandlungen gegen 23.00 Uhr an einen heiklen Punkt gekommen. Verhakt hatten sich die Koalitionäre beim Thema Steuern, wie Teilnehmer berichteten. Die FDP beharrte auf einem verbindlichen Einstieg in das von ihr verfochtene Drei-Stufen-Modell. Die Union hielt dagegen - den Vorwurf "neoliberaler Politik" und einer "Begünstigung der Reichen" schon drohend vor Augen.
Die Verhandlungen, die insgesamt in rekordverdächtigen drei Wochen vergleichsweise reibungslos geführt worden waren, wurden auf den letzten Metern noch einmal hektisch. Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) schwante zu dem Zeitpunkt nichts Gutes: "Die Nacht können Sie knicken", beschied sie den Wartenden. Um 02.12 Uhr morgens aber stand dann die Einigung.
"Der Staat spart bei sich selbst zuerst"
Vollständig auflösen konnten die Unterhändler den Steuerstreit allerdings nicht. Zwar heißt es nun in Zeile 104 den Koalitionsvertrags, dass der "Einkommensteuertarif zu einem Stufentarif" umgebaut werden soll. Doch dann folgt einschränkend, dass "Zahl und Verlauf der Stufen" mit Blick auf das Ziel, vor allem untere und mittlere Einkommen zu entlasten, noch "entwickelt" werden sollen. Und auch der Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens "möglichst zum 1.1.2011" lässt eine Hintertür offen.
Für Westerwelle ist dennoch klar, dass eine "große Steuerstrukturreform" samt Stufentarif fest vereinbart ist. Die Kanzlerin dagegen verweist auch mit Blick auf die derzeit fast unberechenbaren Folgen der Krise darauf, dass vor weiteren Entscheidungen über Steuerfragen der "Status" angesehen werden müsse. Denn auch die konkreten Steuerwohltaten, zu denen auch eine Entlastung von Familien mit Kindern von jährlich 24 Milliarden Euro ab 2011 gehört, sind noch nicht finanziert. Westerwelle kündigt zwar an: "Der Staat spart bei sich selbst zuerst." Ansonsten verweist er aber auf die Haushaltsberatungen. Merkel setzt darauf, dass eine günstigere Konjunktur die nötigen Milliarden bringen wird.
Alles beim Alten
Noch weiter auseinander liegen die Interpretationen der Gesundheitsvereinbarungen. Zwar stehen im Vertrag nun Begriffe wie "Beitragsautonomie" oder "einkommensunabhängige Arbeitnehmerbeiträge". Doch zugleich wird alles Nähere einer künftigen Regierungskommission übertragen. CSU-Chef Horst Seehofer, der im Streit um eine aus seiner Sicht zu liberale Gesundheitspolitik der Union vor fünf Jahren als Fraktionsvize in Berlin zurückgetreten war, interpretiert dies so: "In der Gesundheit ändert sich jetzt erst einmal gar nichts". Und sollte sich etwas ändern, so verspricht Seehofer, werde dies "immer mit sozialem Ausgleich" geschehen.
Westerwelle setzt die Schwerpunkte genau andersherum. "Es ist wichtig, dass wir ein Gesundheitswesen bekommen, das freiheitlich, wettbewerblich und solidarisch ist", sagt er. Politiker von Union und FDP können sich also schon einmal auf weitere nächtliche Koalitionsrunden einstellen.
Quelle: ntv.de, Ellen Hasenkamp, AFP