"Deutsche erblassen vor Neid" Babyboom auf Französisch
18.01.2007, 07:06 UhrKlipp und klar sagt die 22-jährige Stylistin Aurore Cotin aus Chlons-sur-Marne, was sie will: "Ja, drei oder vier Kinder sollen es sein, möglichst Jungen und Mädchen." Die vier Jahre ältere Lehrerin Marie Lidolff aus dem zehnten Pariser Arrondissement sieht es ähnlich: "Ich möchte vier Kinder, ob Jungen oder Mädchen, das ist mir egal." Äußerungen aus vergangenen Zeiten, als Frauen am Kochtopf standen und daneben die Kinder wickelten? Keineswegs: Frankreich ist heute eines der fruchtbarsten Länder der Europäischen Union, wenn nicht schon das mit den meisten Geburten je Frau -genau zwei. Die Zahl der Geburten stieg im vergangenen Jahr auf 830.900 an.
Eigentlich müssten die Zeichen wie beim Nachbarn Deutschland auf Sturm stehen: Die Zahl der Eheschließungen ist im freien Fall, die Franzosen stöhnen unter Kaufkraftverlust und vier von fünf Frauen im Alter zwischen 25 und 49 Jahren arbeiten - was in vielen europäischen Ländern Geschlechtsgenossinnen davon abhält, Kinder bekommen zu wollen. Und dennoch sind es gerade die selbstbewussten Französinnen von heute, die die höchste Geburtenzahl seit einem Vierteljahrhundert möglich gemacht haben - mit Vätern, denen bis zu 14 Tage Baby-Urlaub zustehen. Sollten es Zwillinge oder gar Drillinge werden, darf sich Monsieur sogar 18 Tage in seine neue Rolle einarbeiten.
"Deutsche Frauen erblassen übrigens vor Neid", sagt die Pariser Sozialwissenschaftlerin Marie-Agns Barrre-Maurisson zu dem Phänomen la franaise: "Nahezu die Hälfte der unter drei Jahre alten Kinder können in einen von der Gemeinschaft getragenen Hort gehen, und der Kindergarten ist gratis für alle ab zwei oder drei Jahren", erklärt die Expertin dem Blatt "Le Parisien". Und Frauen können bis zu der Einschulung drei Jahre Erziehungsurlaub nehmen, ohne den Verlust ihres Jobs befürchten zu müssen. Die eine oder andere Beförderung mag ihnen zwar in der Zeit entgehen. Doch gehört es zum Image einer weiblichen Führungskraft, Erfolg im Beruf und als Mutter unter einen Hut bringen zu können - sie muss nicht mehr zwischen diesen beiden Dingen wählen.
"Frankreich ist da eine Ausnahme, und das geht auf 70 Jahre Geburtenpolitik zurück", erläutern die Sozialwissenschaftler. Die "Fruchtbarkeit" wird in der "Grande Nation" als wichtiger politischer und wirtschaftlicher Faktor eingestuft. Die Franzosen vertrauen der Familienpolitik des Staates, weil sich an ihr trotz aller Machtwechsel seit dem Zweiten Weltkrieg nichts wesentlich geändert hat. Und sie sind "südländisch" genug geprägt, ihr Leben "familienorientiert" zu sehen, das hängt auch mit den Millionen Einwanderern aus dem Maghreb zusammen. Beihilfen, Steuererleichterungen und vor allem der Besuch der Vorschule von nahezu allen Kindern im Alter von drei Jahren erleichtern dieses Lebensbild.
"Es gibt in Frankreich diese lange Tradition, Mutterschaft und Frausein zu idealisieren", sagt die Psychoanalytikerin und Autorin Sylviane Giampino. "Heute wollen die Frauen alles, und sie verlangen von den Männern und der Gesellschaft, auch ihren Part zu übernehmen." Was etliche Franzosen auch tun, wie sich zeigt. "In der Wiege liegt die Hoffnung", schreibt das Wirtschaftsblatt "La Tribune" poetisch und hebt Frankreich als "Champion der Fruchtbarkeit" auf Europas Podium.
Hans-Jochen Kaffsack, dpa
Quelle: ntv.de