Forsa über Renate Künast und das Umfragehoch "Die Grünen sind eine Minderheit"
21.10.2010, 18:40 Uhr
In Hochstimmung: Renate Künast und Claudia Roth.
(Foto: dpa)
Die Grünen sind als Gewinner aus der Krise hervorgegangen. Stabile Umfragewerte von 20 bis 30 Prozent, gefühlte Nähe zum Bürger in wichtigen Themen und mit Renate Künast wohl auch eine mögliche Berliner Regierungschefin. Im Gespräch mit n-tv.de erklärt der Forsa-Forscher Dr. Peter Matuschek das Umfragehoch - und warum die SPD vor allen anderen Parteien darunter leidet.
n-tv.de: Herr Matuschek, die Grünen reiten derzeit auf einer Welle exzellenter Umfrageergebnisse. Warum?
Peter Matuschek: Sie haben von allen Parteien die treueste Stammwählerschaft. Die Anhänger der Grünen gehen fast alle zu jeder Wahl, das unterscheidet sie von den anderen Parteien. Der andere Punkt ist, dass sie seit der vergangenen Bundestagswahl zunehmend Überläufer gewinnen von ehemaligen SPD-, aber auch von verzweifelten bürgerlichen Wählern aus Union und FDP. Daneben profitieren die Grünen auch von den Themen, die momentan im Vordergrund stehen, beispielsweise die Energiedebatte oder Stuttgart 21. Die Art und Weise, wie andere Parteien damit umgehen, tut ihr Übriges. Die SPD etwa verschreckt momentan ihre Wähler oder treibt sie in Richtung der Grünen.
Und die anderen Wähler der Volksparteien bleiben einfach zuhause?
Genau. Die Grünen profitieren zum Teil davon, dass die Konkurrenz ihre Anhänger nicht ausreichend mobilisieren kann. Ihre Stärke ist auch die Schwäche der anderen.
Wenn Renate Künast bei der Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses im September 2011 als Spitzenkandidatin der Grünen gegen Klaus Wowereit ins Rennen geht: Wie stehen ihre Chancen?
Die Ausgangslage für die Grünen ist extrem gut. Das gab es bislang bei keiner Wahl in Berlin. Im September lag die Partei mit 30 Prozent deutlich vor der SPD mit 26 Prozent. Das ist eine neue Qualität. Auch Renate Künast liegt derzeit im direkten Vergleich vor Klaus Wowereit, vor allem im Westteil der Stadt. Natürlich ist das auch bedingt durch die Schwäche der SPD und den Totalausfall der bürgerlichen Parteien als Opposition im Berliner Abgeordnetenhaus.
Sind es die besten Chancen, die die Grünen je im Vorfeld einer Wahl in einem Bundesland hatten?
Ja, das sehen wir auch in Baden-Württemberg und sogar im Bund. Auch dort liegen die Grünen vor der SPD. Die Frage ist: Wie positionieren sich die Sozialdemokraten, wenn es dabei bleibt. Sind sie bereit, sich als Juniorpartner an einer Koalition zu beteiligen, oder warten sie ab, ob die Grünen sich in Richtung Union orientieren? Das ist alles noch sehr offen. In Berlin sind die Chancen der Grünen im Moment auf jeden Fall exzellent, bei den nächsten Abgeordnetenhauswahlen stärkste Partei zu werden.
Sollte sich die SPD entschließen tatsächlich als Juniorpartner an einer grün-roten Koalition teilzunehmen - welche Auswirkungen hätte das für die Partei?
Rückblickend ist es in jedem Fall ein Vorteil, wenn man als stärkere Partei in eine Koalition eintritt und den Ministerpräsidenten oder im Fall Berlins den Regierenden Bürgermeister stellt. Offen ist, ob sich die SPD darauf einlässt, als kleiner Partner mit den Grünen eine Koalition zu bilden. Das wäre ein Präzedenzfall für folgende Wahlen und ein öffentliches Eingeständnis, dass man den Status als Volkspartei aufgegeben hat. Die Partei müsste dann ihr Selbstverständnis überprüfen.
Wie hat sich das Ausschlussverfahren gegen Thilo Sarrazin in den Umfragewerten der SPD niedergeschlagen?
Damit haben sich die Sozialdemokraten keinen Gefallen getan. Nicht, weil jeder seinen Thesen zur Integration zustimmt, sondern weil etwas anderes bei den Wählern hängenbleibt: Dass die SPD das Thema nicht zur Zufriedenheit der eigenen Anhänger angepackt hat. Wir haben beobachtet, dass die Werte der SPD danach deutlich abgefallen sind.
Auf der einen Seite also die SPD, die mit der Nichtbeachtung des Themas Integration ihre Wähler vergrätzt, auf der anderen die Grünen, die eben diese anlockt?
Das kann man nicht als kausalen Zusammenhang darstellen. Trotzdem war es ein Baustein, der der SPD geschadet hat. Es kommen noch andere Faktoren dazu, wie etwa die Energiepolitik, bei der die eigene Anhängerschaft gespalten ist. Nicht alle sind grundsätzlich gegen Atomenergie, sondern sehen eine längere Nutzung als notwendig an. Und natürlich die Haltung zu Stuttgart 21, einem Thema, das nun auch bundesweit von den Menschen wahrgenommen wird. Da ist wenig plausibel, warum die SPD sich jahrelang für das Projekt ausspricht, aber die Entscheidung jetzt per Volksentscheid den Bürgern überlassen will. Zumal unklar ist, worüber überhaupt im Detail abgestimmt werden würde.
Allgemein gesprochen?
Die Partei erweckt den Eindruck, dass sie nicht die Themen aufgreift, die die Bürger wirklich bewegen, wie etwa die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die Schaffung von Rahmenbedingungen für mehr Wirtschaftswachstum oder das Thema Bildung, sondern sich mit Nebenthemen wie z.B. den Hartz-IV-Gesetzen beschäftigt. Das ist bei aller Bedeutung für die davon Betroffenen doch insgesamt gesehen ein Minderheitenthema. Die SPD tut sich keinen Gefallen, wenn sie sich auf Sachverhalte konzentriert, die – wie die Atompolitik – eher Leib-und-Magen-Themen der Grünen sind, und die weitgehend an den Bedürfnissen der eigenen Anhängerschaft vorbeigehen.
Spielt für die Stärke der Grünen in Berlin auch die Altersstruktur der Bevölkerung eine Rolle? Erwachsene um die 30 Jahre sind die zweitgrößte Altersgruppe in der Hauptstadt.
Unabhängig davon ist der Unterschied zwischen Alt-Westberlinern und Alt-Osterberlinern gegenüber den Zugezogenen viel interessanter. Fast ein Drittel der Einwohner in der Hauptstadt sind nach 1990 nach Berlin gekommen. Die sind nicht den festgefahrenen Ost-West-Mustern verhaftet. Bei diesen Menschen haben die Grünen gute Chancen, weiteren Zulauf zu bekommen.
Sind die Grünen eine Volkspartei?
Bundesweit gesehen haben die Wähler der Grünen mittlerweile ein höheres Durchschnittseinkommen als die FDP-Anhänger. Auch wenn bisweilen von einer neuen Volkspartei die Rede ist – die Grünen sind nach wie vor eine kleine Minderheit von Postmaterialisten, die sich um ihr materielles Auskommen keine Sorgen machen müssen und knallharte Interessenpolitik für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe betreiben. Beispiele sind etwa die Verkehrspolitik oder Fragen der Stadtentwicklung. Sie bedienen ein bestimmtes soziales Segment. Damit sind sie eine Klientelpartei und keine Volkspartei.
Mit Dr. Peter Matuschek sprach Roland Peters
Quelle: ntv.de