Dossier

Obamas Afghanistan-Strategie "Die letzte große Chance"

Die USA wollen ihr militärisches, aber auch ihr ziviles Engagement in Afghanistan verstärken. Es sei falsch zu denken, dass ein nur militärischer Ansatz "unsere Probleme löst", sagte US-Präsident Barack Obama jüngst in einem Fernsehinterview. Und er brach ein Tabu: Er sprach davon, dass ein "Ausstiegsszenario" notwendig sei. Der Grünen-Verteidigungspolitiker Winfried Nachtwei schöpft Hoffnung aus Obamas Strategiewechsel. Es sei gut, "dass die amerikanische Regierung die Gefährlichkeit der Lage endlich offen zugesteht": Afghanistan stehe "auf der Kippe", so Nachtwei im Interview mit n-tv.de. Obama bedeute für Afghanistan vielleicht "die letzte große Chance".


n-tv.de: Als wir im vergangenen September mit Ihnen sprachen, haben Sie die Amerikaner dafür kritisiert, dass sie die Taliban erst militärisch zurückdrängen wollen, bevor sie sich um den Wiederaufbau kümmern. Das führe "zwangsläufig zu immer mehr zivilen Opfern", sagten Sie. Der US-Präsident heißt mittlerweile Obama, und er hat jetzt deutlich gemacht, dass er die Afghanistan-Strategie der USA radikal verändern will. Was halten Sie von seinen Äußerungen?


Winfried Nachtwei: Obama vollzieht an mehreren zentralen Punkten einen klaren strategischen Wechsel. Endlich nehmen die USA die gesamte Region in den Blick. Dafür steht der Begriff "AFPAK" für Afghanistan und Pakistan, den Obamas Beauftragter Richard Holbrooke im Februar bei der Sicherheitskonferenz in München benutzt hat. Sogar den Iran will die US-Regierung einbeziehen. Wenn das kein Wechsel ist! Neu ist auch der Versuch einer Differenzierung bei den so genannten regierungsfeindlichen Kräften.


Taliban-Sprecher sagen immer wieder, es gebe keine gemäßigten Taliban, mit denen man sprechen könne.


Sicher, der Begriff "gemäßigte Taliban" ist ein Widerspruch. Aber die regierungsfeindlichen Kräfte insgesamt sind sehr heterogen, die Hardcore-Taliban, die vom pakistanischen Quetta aus geführt werden, sind nur ein Teil davon. Und auch das ist keine hierarchische Organisation; da spielen die örtlichen Kommandeure eine große Rolle. Um diese gruppieren sich dann verschiedene andere Gruppen, deren Triebfeder nicht unbedingt die Ideologie der Taliban ist, sondern häufig Verbitterung, Wut, Zorn, Enttäuschung - über die Regierung, über die Korruption, über die Bombe, die das eigene Haus zerstört hat. Da gibt es verschiedene Motivationen, unter Umständen auch die bessere Bezahlung.

Ist es nicht dennoch naiv, mit den Taliban verhandeln zu wollen?
 

Das ist keine Naivität, sondern purer Realismus. Eine Studie vom Ende letzten Jahres hat gezeigt, dass die weitaus meisten terroristischen Bewegungen durch Integration in den politischen Prozess überwunden wurden, nur ganz wenige militärisch, und dann nur durch eigene Kräfte vor Ort.
 

In dem CBS-Interview vor ein paar Tagen hat Obama von einer Ausstiegsstrategie gesprochen. Es müsse "klar sein, dass wir damit nicht endlos weitermachen".
 

Militärs mahnen seit Jahren immer wieder, dass es nicht ewig so weitergehen kann. In der politischen Diskussion war der Begriff "Ausstieg" jedoch absolut tabu. Insofern ist Obamas Äußerung schon bemerkenswert. Wobei Ausstieg natürlich nicht eine Strategie des schnellen oder gar sofortigen Abzugs meint, sondern eine Ausstiesgsperspektive, die dann auch zum Erfolg verpflichtet.
 

Es gibt Berichte, dass Obama Anfang April beim NATO-Gipfel die Verbündeten vor die Alternative stellen will: entweder mehr Soldaten oder Rückzug.
 

Ich weiß nicht, ob das so stimmt. Im Vorfeld solcher Gipfeltreffen wird immer einiges gestreut. Meines Wissens gibt es auf der amerikanischen Seite kein Ansinnen, die Bundesrepublik zu mehr Soldaten oder gar zu Soldaten im Süden Afghanistans zu drängen. Die Amerikaner wissen, dass das in Deutschland nicht durchsetzbar wäre.

Obama hat in dem Interview Afghanistan mit dem Irak verglichen und klang dabei nicht sehr zuversichtlich. Die irakische Bevölkerung sei gebildeter, die irakische Infrastruktur sei besser, es gebe auch nicht eine destabilisierende Grenze wie die zu Pakistan.
 

Und der Irak ist ein reiches Land.
 

Und dennoch ist die Situation im Irak auch nicht gerade rosig. Sie schreiben in Ihrem jüngsten Bericht zur aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan, die Gewaltspirale zersetze die Autorität von Regierung und ISAF. "Wie sie gestoppt und umgedreht werden kann, ist die strategische Schlüsselfrage."
 

Das ist ja auch das Gute, wenn es auch ernüchternd ist: Dass die amerikanische Regierung die Gefährlichkeit der Lage endlich offen zugesteht. Sie denkt sozusagen auch das Undenkbare: dass nämlich die Vereinten Nationen, die NATO, der Westen dort verlieren könnten, dass Afghanistan auf der Kippe steht. Ein Schlüsselpunkt wird sein, ob und wie sich Verhalten und Operationsweise der amerikanischen Truppen künftig von der Vergangenheit unterscheiden. Dazu habe ich noch nichts gehört.


Haben Sie Hoffnungen, dass die Amerikaner dazugelernt haben?
 

Wenn man nach den Worten und Taten von General David Petraeus urteilt, dem Oberkommandierenden der US-Truppen in der Region, dann ja. Petraeus hat das längst verstanden. Die Frage ist, wie eine solche Erkenntnis in einer Militärhierarchie unten an der Basis durchgesetzt werden kann. Dort agieren Soldaten, die eine militärische Sozialisation als Krieger haben, als "warrior", die kommen zum großen Teil aus dem Irak. Ich habe daher erhebliche Zweifel, ob das gelingt. Deshalb ist auch dieser "Surge" in Afghanistan, die Aufstockung der amerikanischen Truppen um 17.000 Soldaten, eine äußerst zwiespältige Angelegenheit. Wenn diese Soldaten weiterhin so auftreten wie in der Vergangenheit, dann wird das Hass und Gewalt nur weiter vorantreiben.
 

Sie wollen sich nicht der Hoffnung hingeben, dass es jetzt besser wird.
 

Oh doch, ich will es hoffen, ich will es hoffen! Insgesamt liegt mein Akzent noch immer mehr auf der Hoffnung; die neue US-Regierung ist möglicherweise die letzte große Chance für Afghanistan.

Sie haben der deutschen Regierung vorgeworfen, das richtige zu sagen, ihren Standpunkt aber nicht nachdrücklich genug zu vertreten und sich nicht ausreichend zu engagieren.
 

Ihr Engagement ist halbherzig, ja.
 

Wird die amerikanische Strategie möglicherweise jetzt anschlussfähig an den europäischen Standpunkt?
 

Das ist sicher so, es gibt jetzt viel mehr Konsens. Da kommt es umso mehr darauf an, dass von den Europäern Vorschläge und Initiativen kommen. Von deutscher Seite ist aber nichts zu sehen. So gut wie der Diplomat Bernd Mützelburg als Person ist, aber ein Mützelburg macht noch keinen Frühling für die deutsche Afghanistan-Politik.
 

Deutschland ist der drittgrößte Truppensteller in Afghanistan und das viertgrößte Geberland. Der deutsche Einfluss auf die internationale Afghanistan-Politik und auch auf die afghanische Politik entspricht dem jedoch nicht mehr. Wie kam es dazu?
 

Das ist mir auch nicht so ganz erklärlich. In den ersten Jahren war Deutschland sehr engagiert, war zeitweise sogar größter Truppensteller und gehörte - während andere in den Irak gegangenen sind - zu den verlässlichsten Bündnispartnern in Afghanistan. Das ist in den letzten drei Jahren verloren gegangen.


Liegt das an der Person des Verteidigungsministers oder an der Großen Koalition insgesamt?
 

Ich beklage Führungsschwäche, Strategiemangel und Gesichtslosigkeit. Und wo es härteren Gegenwind aus der Bevölkerung gibt, wird auf Initiative verzichtet. Ich rede nicht einer Politik das Wort, die sich gegen die Bevölkerung stemmt, aber man muss eben um die Meinung, um die Einsicht der Bevölkerung kämpfen. Das geschieht nicht. Insgesamt ist es ein Zurückweichen vor der Größe dieser Herausforderung. Dabei hatte Deutschland mit seinem - immer noch! - fantastischen Ruf in Afghanistan die besten Voraussetzungen.
 

Vor der Wahl in den USA hieß es in Deutschland ziemlich unisono, Obama werde bestimmt ein guter Präsident sein, aber in Afghanistan werde er die Europäer stärker fordern. Jetzt hat Holbrooke gesagt, die US-Regierung werde anderen Ländern nicht sagen, was sie zu tun hätten. "Das ist nicht die Art, wie wir Außenpolitik betreiben sollten, diese Ära ist vorüber." Haben wir uns in Obama getäuscht oder kommt das dicke Ende noch?

Es ist nicht zu erwarten, dass die Obama-Administration im Rumsfeld-Stil mit den Verbündeten umgeht. Aber man kann ja Anforderungen nach einer Diskussion über die gemeinsame Strategie geschickter, höflicher und dann möglicherweise auch wirksamer vortragen.

Quelle: ntv.de, Mit Winfried Nachtwei sprach Hubertus Volmer

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