Georgien nach dem Krieg Feuerpause noch brüchig
12.08.2008, 18:48 UhrNach der Verkündung der Feuerpause durch Russland macht sich in Tiflis Erleichterung breit. Doch auch nach Anordnung der Feuerpause durch Russland wurde geschossen. Über die aktuelle Situation sprach n-tv.de mit Götz-Martin Rosin in Tiflis. Er ist Redakteur der "Kaukasischen Post", einer deutschsprachigen Zeitung in Georgien.
n-tv.de: Der russische Präsident Medwedew hat heute eine Feuerpause im Krieg um Südossetien angeordnet. Die georgische Regierung erklärte dagegen, russische Kampfflugzeuge hätten zwei Ortschaften in Georgien angegriffen. Können Sie das bestätigen?
Götz-Martin Rosin: Zur Stunde findet eine große Demonstration auf dem Rustaweli-Prospekt statt, dem zentralen Platz in Tiflis vor dem Parlament. Dort hat Staatspräsident Saakaschwili gerade gesagt, noch vor kurzem seien Angriffe auf Gori geflogen worden, eine Stadt zwischen Südossetien und Tiflis. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Die beiden Ortschaften sind Agara und Kaspi, auch dort soll nach Verkündung des Waffenstillstands weiter angegriffen worden sein, berichten georgische Medien. Besonders erschrocken hat mich ein Anruf eines deutschen Bekannten: Sein Wagen mit ihm, seiner Frau und zwei Kindern wurde Stunden nach Verkündung der Feuerpause in Gori von Heckenschützen beschossen.
Wie stark waren die russischen Angriffe auf das georgische Kernland? Es soll schwere Luftangriffe auf Gori gegeben haben.
Gori ist sehr stark angegriffen worden, heute wieder vom frühen Morgen bis etwa 11 Uhr. Dort ist auch ein Journalist ums Leben gekommen, ein niederländischer Kameramann - ein gepanzerter Jeep von Reuters wurde beschossen. Dann kam die Waffenruhe, was große Erleichterung hier in Tiflis ausgelöst hat. Nach den Berichten aus Agara, Kaspi und Gori wurde die Stimmung wieder etwas unruhiger.
Insgesamt soll es heute in Gori fünf Tote gegeben haben. Vor drei Tagen sollen bei einem Angriff ebenfalls fünf Zivilisten ums Leben gekommen sein.
Bei den Opferzahlen hat sich Georgien in den vergangenen Tagen sehr zurückgehalten. Nach offizieller Darstellung gab es am ersten Tag insgesamt 45 Tote, am zweiten 50, dann 87. Aber Rückkehrer von der Front haben mir berichtet, daß es sehr viele Opfer gab, und auch Saakaschwili hat in seiner Rede gerade gesagt, dass man wahrscheinlich sehr hohe Opferzahlen zu beklagen haben werde. Genaue Zahlen hat er nicht genannt. Die Lage ist noch sehr unübersichtlich. Gestern Abend hieß es, die Russen stehen kurz vor Tiflis, dann gab es Gerüchte russische Truppen seien in Mzcheta, das ist eine Stadt kurz von Tiflis. Die georgische Regierung sagte, Gori sei eingenommen worden, was sie später wieder zurücknahm. Zu stimmen scheint, dass Sugdidi eingenommen wurde, eine Stadt an der Grenze zu Abchasien. Von dort gibt es in den georgischen Medien derzeit kaum Berichte. Im Kodori-Tal, das bislang unter georgischer Kontrolle stand, scheint heute Morgen eine Großoffensive gestartet worden zu sein.
Die Abchasen haben erklärt, sie hätten das Kodori-Tal eingenommen.
Georgische Medien sagen nur einige Dörfer, nicht das komplette Tal.
Es war auch die Rede von russischen Truppen im Schwarzmeerhafen Poti und in der westgeorgischen Stadt Senaki.
Das kann ich so nicht bestätigen, ich halte es auch nicht für wahrscheinlich. Auf Poti und Senaki gab es wohl Raketenangriffe, aber eingenommen wurden diese Städte nicht.
Gab es bei dem Luftangriff auf den Flughafen von Tiflis zivile Opfer?
Der internationale Flughafen selbst ist nicht angegriffen worden, sondern eine Flugzeugfabrik und deren Landebahn in der Nähe. Das habe ich immer live mitbekommen, ich wohne unweit dieser Gegend. Tote gab es nicht aber einige Leichtverletzte. Was einige Medien berichtet haben, dass heute Vororte von Tiflis bombardiert wurden, das stimmt nicht. Das waren wohl Sprengungen von Blindgängern, die bei den Angriffen auf die Basis Vasiani nicht detoniert sind.
Sind schon Flüchtlinge in Tiflis angekommen? Laut UNHCR sind 100.000 Menschen in der Region auf der Flucht, 30.000 aus Südossetien Richtung Russland, auf der georgischen Seite allein 56.000 aus Gori.
Ja, es gibt in Tiflis Flüchtlinge. Viele wurden in Schulen und Kindergärten untergebracht.
Ist in Tiflis ansonsten etwas vom Krieg zu spüren?
Die Banken haben heute geschlossen. Erstaunlicherweise ist der Lari gegenüber dem Dollar aufgewertet worden - eigentlich ein Absurdum. Die Versorgungslage ist relativ stabil, aber viele Versorgungswege nach Tiflis sind unterbrochen worden. Da dürfte es in den nächsten Wochen noch Schwierigkeiten geben. Die deutsche Botschaft hat heute einen Konvoi mit Deutschen nach Eriwan gebracht, dort soll morgen früh ein Lufthansa-Flug nach München starten.
Wie ist die Stimmung in Tiflis? Ist ein eher ein "Wir halten zusammen" oder wird Saakaschwili vorgeworfen, dass er sich in den Krieg hat hineinziehen lassen?
Letzteres ist nicht der Fall. Auch die Opposition hält sich sehr zurück, von einer drohenden innenpolitischen Krise ist zumindest im Moment nichts zu spüren. Jetzt wird eher die Geschlossenheit betont - was ja auch die vielen Demonstranten vor dem Parlament in Tiflis zeigen.
Wie geht es jetzt weiter? Ist Südossetien für Georgien noch zu halten?
Das ist schwer zu sagen. Nach meinem Empfinden sind Südossetien und Abchasien für Georgien wohl verloren.
Wie war das Verhältnis zwischen Georgiern und Südosseten oder Russen bislang auf der privaten Ebene?
Zwischen Südosseten und Georgien ist es natürlich kein völlig entspanntes Verhältnis, aber grundsätzlich zeichnen sich die Georgier durch eine unglaubliche Toleranz aus. Ich lebe seit vier Jahren in Tiflis, hier gibt es viele Russen. Anti-russische Ressentiments habe ich nie erlebt, auch jetzt nicht. Es gab natürlich Demonstrationen vor der russischen Botschaft, aber auf den Umgang mit den Russen, die hier leben, wirkt sich der Krieg nach meiner Beobachtung nicht aus.
Wie eng ist die Bindung an Südossetien? Ist es vergleichbar mit Serbien und dem Kosovo?
Es ist schon eine sehr enge Bindung. Aber ob die Bindung vergleichbar ist mit dem Verhältnis der Serben zum Amselfeld? Das würde ich nicht behaupten. Aber es ist für die Georgier natürlich georgisches Territorium.
Georgiens Ministerpräsident hat am Montag in einer Fernsehansprache gesagt: "Wir bedauern, dass wir diese Entwicklungen erlebt haben, ohne dass unsere westlichen Verbündeten aktiver eingeschritten sind." Georgien konnte doch nicht ernsthaft erwarten, dass die NATO oder die USA militärisch eingreifen würden.
Diese Frage stelle ich mir auch. Fakt ist, dass man sehr auf Unterstützung gehofft hat. Gestern Abend hat Saakaschwili eine Rede gehalten, deren Tenor war "Wir sind im Stich gelassen worden". Er hat es nicht ausdrücklich gesagt, aber es klang doch durch. Der Ministerpräsident wurde etwas konkreter: Wir sind von unseren "westlichen" Freunden im Stich gelassen worden.
Halten Sie für vorstellbar, dass Saakaschwili darauf spekuliert, dass Georgien in die NATO aufgenommen wird, wenn er Südossetien und Abchasien in diesem Krieg an Russland verliert?
Solche Gerüchte habe ich schon gehört, aber ich halte sie nicht für sehr plausibel. Ich glaube nicht, dass ein georgischer NATO-Beitritt nach diesem Krieg wahrscheinlicher geworden ist.
Mit Götz-Martin Rosin sprach Hubertus Volmer
Zusammen mit Ludmilla Klotz hat Götz-Martin Rosin das Buch "SpiegelBilder" über Erfahrungen der deutsch-georgischen Zusammenarbeit geschrieben.
Quelle: ntv.de