Dossier

SPD-Richterkandidat Folterverbot relativiert

Am Ende waren die Gegner zahlreich und vielfältig. Union, Grüne, Linke, auch Kirchen und Bürgerrechtler waren sich einig wie selten: Der Würzburger Rechtsprofessor Horst Dreier darf nicht an die Spitze des Bundesverfassungsgerichts gewählt werden. Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU), auf Unionsseite zuständiger Koordinator für die Richterwahl im Bundesrat, zog dieser Tage die Reißleine und gab die Parole aus: Der SPD-Kandidat fürs hohe Richteramt wird blockiert.

Von Länderseite, aber auch aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird bestätigt, dass die Ablehnung Dreiers in der Union ziemlich einhellig ist. Weil für die Richterwahl eine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich ist, dürfte der 53-jährige Jurist kaum noch Chancen haben, in einem Monat die Nachfolge des ausscheidenden Vizepräsidenten Winfried Hassemer anzutreten. Das Amt hätte ihn nach den Karlsruher Usancen zum designierten Nachfolger des 2010 ausscheidenden Gerichtspräsidenten Hans-Jürgen Papier gemacht.

Liberale Haltung in Sachen Bioethik

Der Eklat erinnert an das Scheitern von Herta Däubler-Gmelin, deren Ambitionen auf die Karlsruher Gerichtspräsidentschaft 1993 von der CDU torpediert worden waren - angeblich, weil man die damalige stellvertretende SPD-Vorsitzende für parteipolitisch zu exponiert hielt. Die Ablehnung Dreiers hat allerdings nichts mit Parteipolitik, dafür umso mehr mit dem Grundgesetz zu tun: Aus Sicht seiner Kritiker wackelt der renommierte Staatsrechtler ausgerechnet beim wichtigsten aller Grundrechte - beim Schutz der Menschenwürde.

In seinem Grundgesetzkommentar spielt Dreier einen Entführungsfall durch, bei dem sich - wie 2004 in Frankfurt geschehen - die Polizei zur Rettung des verschleppten Opfers nicht anders als durch eine Folterdrohung gegen den Entführer zu helfen weiß. "In diesen Konstellationen dürfte der Rechtsgedanke der rechtfertigenden Pflichtenkollision nicht von vornherein auszuschließen sein", steht dort in lupenreinem Juristendeutsch. Übersetzt heißt das: Das Folterverbot gilt womöglich doch nicht absolut - in Extremfällen könnte Folter gerechtfertigt sein.

Noch stärker stößt sich die Union an Dreiers liberaler Haltung in Sachen Bioethik. Der strikte Schutz künstlich erzeugter Embryonen, wie ihn die deutsche Gesetzeslage kennt, sei "keineswegs durch die Verfassung, namentlich die Menschenwürde und das Lebensrecht, zwingend gefordert", heißt es in einem Aufsatz vom vergangenen Jahr.

Texte wie diese haben Oettinger und seine Amtskollegen von der Union in dieser Woche "intensiv" gelesen. Zwei Gespräche seien geführt worden, "man hat es sich nicht leicht gemacht", sagt ein Teilnehmer. Doch weil es eben nicht um irgendein Grundrecht gehe, sondern um das Fundament der gesamten Verfassung, habe sich die Union einhellig gegen Dreier entschieden.

Hoch angesehener Staatsrechtslehrer

Ein Schritt, der letztlich doch überraschend kam. Denn Dreier ist als Staatsrechtslehrer hoch angesehen und bei seinen Würzburger Studenten äußerst beliebt. Zudem trauten ihm Menschen, die ihn kennen, die notwendige Autorität zu, das Klima im häufig zerstrittenen Zweiten Senat zu verbessern. Noch am Donnerstag waren aus dem Senat mit Blick auf Dreier positive Signale zu vernehmen.

Vor allem aber bricht Oettinger mit einer jahrzehntelang geübten Wahlpraxis. Wegen des Zwei-Drittel-Quorums haben sich die großen Parteien wechselseitig Vorschlagsrechte für je die Hälfte der 16 Richterstellen zugebilligt. Vorschläge der anderen Seite werden, wenn überhaupt, in diskreten Gesprächen im Hinterzimmer abgelehnt; der Fall Däubler-Gmelin war ein seltener Ausreißer.

Oettinger, dessen Zweifel an dem schon vor Wochen benannten SPD-Kandidaten offenbar erst durch Medienberichte ausgelöst wurden, riskiert mit der öffentlich gewordenen Ablehnung, dass künftige Unionskandidaten womöglich ebenfalls mit Gegenfeuer rechnen müssen. Doch nachdem der Ministerpräsident kürzlich seinem altgedienten Finanzminister Gerhard Stratthaus vor laufenden Kameras den Stuhl vor die Tür gesetzt hatte, verstärkt sich nicht nur beim politischen Gegner der Eindruck, dass Personalpolitik nicht zu seinen Stärken gehört.

Von Wolfgang Janisch, dpa

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen