Dossier

Viele Normalbürger in der Zelle Frankreich ruft nach einer Reform

Vor allem die Festnahmen von Minderjährigen befeuern die Reformdebatte.

Vor allem die Festnahmen von Minderjährigen befeuern die Reformdebatte.

(Foto: REUTERS)

Die Zahl der Personen, die in Polizeigewahrsam genommen wurden, ist explodiert. Sogar der franzöischen Regierung ist das inzwischen unheimlich.

Als Innenminister hat Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy seine Polizei ohne Unterlass zu mehr Festnahmen gedrängt. Seitdem sind die Zahlen des Polizeigewahrsams sprunghaft gestiegen. 800.000 Mal sind Menschen vergangenes Jahr vorläufig festgenommen worden - oft wegen Bagatelldelikten wie Verkehrsverstößen. Das wird mittlerweile auch Sarkozys konservativer Regierungsmehrheit unheimlich. Sie dringt auf eine Reform, weil inzwischen zu viele "Normalbürger" in der Polizeizelle landen.

"Die Zahl der Fälle von Polizeigewahrsam ist seit 2001 um mehr als 60 Prozent explodiert", kritisierte die Führung der Sozialistischen Partei (PS) diese Woche. Rechnerisch werde damit inzwischen Jahr für Jahr "ein Prozent der in Frankreich lebenden Bevölkerung" vorläufig festgenommen. Anders als in Deutschland kann die französische Polizei tatsächlich jeden Verdächtigen bis zu 48 Stunden ohne richterlichen Beschluss in Gewahrsam nehmen. Traditionell dient das dazu, über Verhöre Geständnisse zu erhalten.

Wiederherstellung des Gleichgewichts gefordert

Doch nachdem die konservative Regierung die steigende Zahl der Gewahrsamsfälle jahrelang als Zeichen einer entschlossenen Verbrechensbekämpfung feierte, wachsen inzwischen die Zweifel. "Die Bedingungen des heutigen Polizeigewahrsams sind mit Blick auf die Personen, aber auch hinsichtlich der Hygiene vollkommen unmöglich", sagt der Fraktionschef der Regierungspartei UMP, Jean-François Copé. Es müsse wieder ein "Gleichgewicht" zwischen der Notwendigkeit von Polizeiermittlungen "und dem Respekt vor den Rechten" der Bürger gefunden werden. Für Reformvorschläge setzte Copé diese Woche eine Arbeitsgruppe der UMP-Fraktion ein.

Befeuert wird die Debatte gerade durch Fälle, in denen Minderjährige in Polizeihaft genommen wurden. Im ostfranzösischen Troyes erwischte es zwei 13 und 14 Jahre alte Schüler, die an einem Ferientag mit einem Bus zum Bowling fahren wollten - ihre Fahrkarten galten aber nur für die Schulzeit. Anfang Februar wurde die 14-jährige Anne in Paris am Sonntagmorgen in Handschellen abgeführt, weil sie in eine Schulkeilerei verwickelt gewesen sein soll. Sie musste zehn Stunden im Gewahrsam bleiben. "Das ist doch Wahnsinn", sagte ihre Mutter. "Ein Terrorist wäre nicht anders behandelt worden!"

Unhaltbare Zustände in den Zellen

Die Kritik entzündet sich auch an oft unhaltbaren Zuständen in den Polizeizellen. Ein Richter im nordostfranzösischen Charleville erließ jüngst einem Verkehrssünder die Strafe, weil er stundenlang mit zwei anderen Gefangenen in eine Zelle von nur 2,3 Quadratmetern eingesperrt wurde. Als er dagegen aufbegehrte, musste er weitere zehn Stunden in eine Ausnüchterungszelle ausharren, die von "ekelhafter Schmutzigkeit" war, wie der Richter selbst vor Ort feststellte. Damit habe der Mann seine Tat "schon teuer genug bezahlt".

Es gebe inzwischen "zu viele Fälle von Polizeigewahrsam", räumt Justizministerin Michèle Alliot-Marie ein. Sie verspricht eine Reform. Der Gewahrsam müsse künftig "im Verhältnis zur Schwere der Tatbestände" stehen. Er solle deshalb nur noch "bei Verbrechen und Delikten angewandt werden, die mit Gefängnis bestraft werden".

Alliot-Marie will dabei auch auf die Kritik an der Verwertbarkeit von Verhören im Polizeigewahrsam eingehen, die ohne Anwalt geführt werden können. Es werde künftig "keinerlei Verurteilung" mehr geben, die lediglich auf den Verhören ohne Rechtsbeistand beruhten, verspricht sie. Das hält auch Alliot-Maries Parteifreund, der UMP-Senator René Vestri, längst für überfällig. "Ich war einmal im Polizeigewahrsam", erzählt er. "Ich hätte sonstwas unterzeichnet, damit man mich da so schnell wie möglich wieder rauslässt."

Quelle: ntv.de, Martin Trauth, AFP

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