2.500 NS-Erschießungsstellen Judenmord in der Ukraine
20.09.2007, 18:05 UhrIn der Ukraine hat es nach Ansicht französischer Forscher mindestens 2.500 NS-Erschießungsstellen gegeben, an denen während des Zweiten Weltkriegs Juden ermordet wurden. Mit Hilfe des zentralen deutschen NS-Archivs arbeiten die Wissenschaftler derzeit die weitgehend unbekannte Leidensgeschichte ukrainischer Juden auf. Ihr Projekt wurde am Donnerstag in der Ludwigsburger Einrichtung erstmals in Deutschland vorgestellt.
In den Jahren 1941 bis 1944 wurden in der Ukraine rund 1,5 Millionen Juden ermordet. Die Wissenschaftler aus Frankreich haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Erschießungsstellen ausfindig zu machen und an den jeweiligen Orten nach Zeitzeugen zu suchen: "In der Ukraine hat es bisher noch keine Aufarbeitung des Holocaust gegeben", sagte der französische Pater Patrick Dubois in Ludwigsburg. Grundlage für die Arbeit der Forscher sind unter anderem Akten aus der dortigen Aufklärungsstelle.
Der Leiter der Forschergruppe geht davon aus, dass die deutschen Einsatzkommandos an insgesamt 2.500 Plätzen in der Ukraine Menschen jüdischen Glaubens ermordeten. "700 solcher Erschießungsstellen haben wir schon gefunden", berichtete Patrick Dubois. Mit der Suche solle verhindert werden, dass die Verbrechen in Vergessenheit gerieten. Außerdem gehe es darum, den Opfern einen Teil ihrer Würde zurückzugeben: "Und die Zeitzeugen fragen uns immer: Warum kommen Sie erst jetzt?", berichtete der Pater.
Kinder zur "Mitarbeit" gezwungen
Die Zeugen seien damals Kinder gewesen. Manche von ihnen seien von den Nationalsozialisten bei den Erschießungen für Arbeiten eingesetzt worden. So hätten sie zum Beispiel Gruben graben, die Kleider der Opfer sortieren oder ihnen Goldzähne herausreißen müssen. "Die Menschen wollen darüber sprechen, bevor sie sterben", berichtete Patrick Dubois. Aber erst mit dem Ende der Sowjetunion und der Öffnung der Ukraine seien solche Gespräche möglich geworden.
In Lisinitschi bei Lemberg machte die Initiative einen Mann ausfindig, der als Kind mitbekommen hatte, wie im Wald neben seinem Haus über sechs Monate hinweg etwa 100.000 Menschen erschossen wurden. "Dort gibt es keinen Gedenkstein, nichts, was an die Opfer erinnert", sagte der Pater.
In der Kleinstadt Busk, die in den Archiven kaum auftauche, seien auf einem alten jüdischen Friedhof 15 Massengräber entdeckt worden. Durch die Ausgrabungen habe sich gezeigt, dass dort nur Frauen und Kinder verscharrt worden seien: Diese hätten es zunächst geschafft, sich in Kellern oder bei Nachbarn vor den ersten Erschießungen zu verstecken, berichteten Einheimische. Andere seien von der Gestapo als Prostituierte länger am Leben gelassen worden, bevor sie in Busk ermordet wurden.
"Der Friedhof liegt mitten im Ort, alle haben die Erschießungen miterlebt", sagte Patrick Dubois. Andere Zeitzeugen erzählten davon, wie die Opfer oft tagelang in den halb zugeschütteten Gruben schrien, weil sie nicht tödlich getroffen worden waren.
Projekt von Kardinal angeregt
"Man muss diese Arbeit schnell machen, weil die Zeitzeugen verschwinden", sagte Patrick Dubois. Seine Gruppe wird hauptsächlich von der französischen Kirche finanziert. Die Initiative namens "Yahad in Unum" ist - unter anderem auf Anregung des im August verstorbenen Pariser Kardinals Jean-Marie Lustiger - im Jahr 2004 gegründet worden: Lustiger hatte als Kind polnischer Juden den Mord an Mitgliedern seiner Familie erlebt und war später zum katholischen Glauben übergetreten.
Patrick Dubois forscht bereits seit sieben Jahren in der Ukraine. Sein Großvater war als Kriegsgefangener in das Land deportiert worden.
Quelle: ntv.de