Dossier

Wut auf Georgien Südosseten auf der Flucht

Der Schreck sitzt den mehr als 30 südossetischen Frauen und Kindern im altersschwachen Omnibus noch in den Gliedern. "Wir sind hungrig. Wir haben drei Tage ohne Licht und Wasser in einem Bunker verbracht", sagt Marina Tojewa, während sie ihren acht Jahre alten Sohn und eine Nichte fest umklammert. In der russischen Ortschaft Misur, 30 Kilometer von der Grenze zu Georgien entfernt, fühlt sie sich das erste Mal sicher. Mit vielen anderen Flüchtlingen war Tojewa durch den rettenden Roki-Tunnel dem Artilleriebeschuss in ihrer Heimat Südossetien entkommen. Außer den Kleidern am Leib ist den Menschen nicht viel geblieben.

Bei der Rast in Misur reichen russische Helfer Butterbrote und Wasserflaschen in die sich ihnen entgegenstreckenden Hände. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR rechnet mit tausenden weiteren Südosseten, die aus Angst vor georgischen Truppen ihr Heil beim nahen Verbündeten Russland suchen. Durch den Kaukasus schlängeln sich zwei Konvois mit unterschiedlichen Zielrichtungen aneinander vorbei. Während die Flüchtlinge so schnell wie möglich nach Norden wollen, kommen ihnen russische Panzer, Lastwagen und mobile Raketengeschütze in einer langen Kolonne auf der staubigen Straße entgegen.

Am Straßenrand warten die ersten Flüchtlinge aus Südossetien auf die Ankunft der Kleinbusse, in denen Verwandte vermutet werden. "Ich dachte, meine Leute wären dabei. Falls sie überhaupt noch leben", sagt Lida Gabarajewa. Unter Tränen stellt die Südossetin fest, dass ihre neunjährige Nichte nicht unter den Ankömmlingen ist. Die Schülerin, eine Fünfklässlerin, verbrachte die Sommerferien bei Freunden in Zchinwali und konnte die Stadt nicht rechtzeitig vor den Bombenangriffen verlassen.

"Unsere Männer hat man nicht rausgelassen"

In einem gerade eingetroffenen Fahrzeug bangt die geflohene Samira um das Leben der Männer aus ihrer Familie. "Unsere Ehemänner hat man nicht rausgelassen. Sogar die Alten mussten bleiben. Sie werden alle im Kampf umkommen", bricht es aus der Frau heraus, während sie auf dem engen Sitz die Hand ihrer Mutter hält.

Fünf Männer haben es mit ihrem Auto von Südossetien durch den Tunnel geschafft. Sie sind allerdings nur gekommen, um auf der sicheren Seite Lebensmittel zu kaufen. "Unsere Geschäfte sind leer oder zerstört", sagt ein junger Mann, der sich als Sergej vorstellt. Mit seinen Kameraden wolle er so schnell wie möglich zurück in die umkämpfte Heimat. "Wir wissen aber nicht, ob wir wieder durchkommen."

Viele Menschen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion fühlen sich an die Tragödien im Kaukasus Anfang der 1990er Jahre erinnert. Nach der Unabhängigkeitserklärung der einstigen Sowjetrepublik Georgien spalteten sich Südosseten und Abchasen in Bürgerkriegen von der Zentralmacht in Tiflis ab. In der Konfliktregion leben bis heute hundert tausende Flüchtlinge, die auch nach fast zwei Jahrzehnten nicht zurück in ihre alte Heimat dürfen. Nun sind wieder Tausende auf der Flucht.

"Das werde ich nie vergessen"

Der 41-jährige Busfahrer Alik Tomajew pendelt zwischen Südossetien und dem zu Russland gehörenden Nordossetien, um Flüchtlinge in Sicherheit zu bringen. Die südossetische Hauptstadt sei völlig dicht. "Da kommt zur Zeit niemand raus, nicht einmal zu Fuß", berichtet Alik auf dem Rastplatz in Misur. Am Sonntag verhandelten russische und georgische Militärs über die Bildung eines Korridors, um Verletzte aus der Kleinstadt abtransportieren zu können. Alik will um jeden Preis weiter seine Landsleute aus Zchinwali holen. "Ich werde es über die Berge versuchen. Irgendwie muss es klappen", sagt er.

Aliks Schwester kann das Blutvergießen der vergangenen Tage noch immer nicht begreifen. "Das werde ich nie vergessen. Es gibt dafür keine Worte", stammelt die Frau. Unter den Flüchtlingen ist die Wut über die georgischen Angreifer groß. "Selbst im Irak gab es nicht einen solchen Krieg. Die Georgier verschonten mit ihren Angriffen nicht einmal die überfüllten Krankenhäuser", schimpft eine Ossetin.

Quelle: ntv.de, Alissa de Carbonnel, dpa

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