Soziale Kipppunkte Die Armen zu ignorieren ist ein schwerer Fehler
15.05.2021, 09:00 Uhr
Die Folgen sozialer Spaltung können für Gesellschaften, ja für die Demokratien genauso zerstörerisch sein wie die Treibhausgas-Emissionen fürs Klima, schreibt Katja Kipping.
(Foto: ntv)
Der Armuts- und Reichtumsbericht macht anschaulich, was in diesem Land sozial im Argen liegt. Die Erkenntnisse dieses Regierungsdokuments sind ein nachdrückliches Plädoyer für einen Kurswechsel.
Am vergangenen Mittwoch wurde im Kabinett der sechste Armuts- und Reichtumsbericht verabschiedet. Dieser Bericht ging im allgemeinen Medientrubel relativ unter. Dabei enthält das 555-seitige Dokument aufrüttelnde Erkenntnisse.
Warum dieses Schweigen? Kann es sein, dass die Mehrheit der Meinungsmacher und Meinungsmacherinnen in diesem Land sich kaum für die Sorgen der Ärmeren interessiert? Einiges spricht dafür. Doch wer die soziale Frage gering schätzt, wer die Sorgen der Ärmeren ignoriert, begeht einen großen Fehler. Denn auch im Sozialen kann es zu Kipppunkten kommen. Die Folgen sozialer Spaltung können für Gesellschaften, ja für die Demokratien genauso zerstörerisch sein wie die Treibhausgas-Emissionen fürs Klima. Perspektivlosigkeit und Abstiegsängste, also die Sorgen von Menschen, die noch etwas zu verlieren haben und denen durch Armut in der Gesellschaft vor Augen geführt wird, wie tief der Abstieg gehen könnte, sind ein guter Nährboden für menschenfeindliche Propaganda.
Der aktuelle Armuts- und Reichtumsbericht liefert wissenschaftlich fundiert Belege dafür, dass sozial in diesem Land einiges im Argen liegt. Zu den ermittelten gesellschaftlichen Tendenzen gehört das Schrumpfen der Mitte von 49 Prozent auf 37 Prozent. Einst wurde rund die Hälfte der Bevölkerung zur Mitte gezählt, heute nur noch ein reichliches Drittel. Damit wird das frühere Aufstiegsversprechen zumindest für ärmere Schichten zur Illusion. Unten ist vielmehr eine Verfestigung von Armut und Prekarität zu beobachten. Beim Vermögen ist die Verteilungsungerechtigkeit besonders auffällig. Die reichere Hälfte der Bevölkerung besitzt 99,5 Prozent des Vermögens, für die ärmere Hälfte bleiben die restlichen 0,5 Prozent beziehungsweise Schulden.
Acht Jahre weniger Lebenszeit
Diese Ungleichheit setzt sich beim Bildungsweg fort: Aus Haushalten mit hohem sozioökonomischen Status entscheiden sich 79 Prozent der Kinder für das Gymnasium, aus ärmeren Haushalten nur 27 Prozent. Dieser Unterschied lässt sich nicht mit den Veranlagungen der Kinder erklären. Vielmehr zeigt sich hier, dass unser Bildungssystem nicht in der Lage ist auszugleichen, was Kinder an unterschiedlichem Kapital mit auf den Lebensweg bekommen.
Arme und Erwerbslose sind zudem stärker von Verkehrslärm und Luftverschmutzung in ihrem Wohnumfeld betroffen. Was noch einmal belegt, dass Umweltschutz auch eine zutiefst soziale Frage ist. Arme leiden häufiger unter Vereinsamung, ja sozialer Isolation. Armut, das heißt halt oft, dass das eigene Lebensumfeld immer mehr zusammenschrumpft, manchmal auf die eigenen vier Wände - aus Scham oder weil schlichtweg die Mittel für Begegnungen fehlen. Wer soziale Isolation aus materieller Not heraus nicht erlebt hat, vermag nur bedingt nachempfinden, welchen Schaden das auf der Seele anrichten kann.
Nun ist der Dauerzustand der sozialen Isolation in einer engen Wohnung, die den Angemessenheitsgrenzen von Hartz IV entspricht, nicht zu vergleichen mit einem zwar langen, aber doch vorrübergehenden Lockdown in einer größeren Wohnung mit Balkon oder in einem Haus mit Garten. Doch vielleicht hilft die Erinnerung an das eigene Hadern mit den Kontaktbeschränkungen, den eigenen Frust über die Einschränkungen während des Lockdowns, zumindest ansatzweise erahnen zu können, wie es sich anfühlt, wenn sich das Leben zunehmend auf die eigene Wohnung begrenzt. Hinzu kommt: Arme haben schlichtweg weniger Zeit zum Leben: Die vielleicht größte Ungerechtigkeit besteht darin, dass arme Männer im Schnitt acht Jahre eher als Wohlhabende sterben. Armsein - das heißt nicht nur schwerer durchs Leben zu kommen, sondern auch kürzer zu leben.
Mit einem Klischee räumt dieser Bericht jedoch auf: Trinken über den Durst ist eher bei sogenannten "hohen Statusgruppen" zu beobachten als um unteren Ende der Einkommenshierarchie. So ist riskanter Alkoholkonsum bei 18 Prozent der Männer mit hoher Bildung zu beobachten. Bei Männern mit niedriger Bildung nur bei 15 Prozent.
68 Prozent für höhere Steuern für Reiche
Unterm Strich sind die Erkenntnisse dieses offiziellen Regierungsdokuments ein nachdrückliches Plädoyer für einen steuer- und sozialpolitischen Kurswechsel. Diese Konsequenz verschweigt die Regierung jedoch im Bericht. Insofern obliegt es der sozialen Opposition, das Offensichtliche auszusprechen: Es ist höchste Zeit für eine soziale Offensive, die alle garantiert vor Armut schützt.
Die gute Nachricht lautet: Der Bericht selber liefert einen Hinweis, woher das Geld für sozialen Ausgleich und Bildungsgerechtigkeit kommen könnte. Immerhin wurden für den Bericht auch Einstellungen in der Bevölkerung ermittelt. 68 Prozent antworten auf die Frage, ob Steuern für Reiche zu niedrig sind mit Ja. Sogar aus der reichsten Gruppe der Befragten fand sich dafür eine Mehrheit von 54 Prozent. Dieser Bericht ist ein echter Handlungsauftrag. Sollte sich in einer Demokratie nicht durchsetzen, wofür zwei Drittel sich aussprechen?
Katja Kipping ist sozialpolitische Sprecherin der Linken-Fraktion im Deutschen Bundestag sowie ehemalige Vorsitzende ihrer Partei. Im wöchentlichen Wechsel mit Konstantin Kuhle schreibt sie die Kolumne "Kipping oder Kuhle" bei ntv.de.
Quelle: ntv.de