Kommentare

Zwischenruf Auschwitz-Gedenken: Mehr als Erinnerung

Der Schriftzug "Arbeit macht frei" hängt über dem Eingang zum Stammlager des ehemaligen Konzentrationslagers in Auschwitz.

Der Schriftzug "Arbeit macht frei" hängt über dem Eingang zum Stammlager des ehemaligen Konzentrationslagers in Auschwitz.

(Foto: dpa)

Das Gedenken an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee vor 67 Jahren im Bundestag muss über das Parlament hinaus alle Menschen in Deutschland aufrütteln. Der Kampf gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus gehört in die Verfassung.

Das Gedenken an die Opfer des Naziregimes im Deutschen Bundestag am Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee gehört zu den unveräußerlichen Traditionen unseres Parlaments. Eingeführt hatte den Gedenktag 1996 ein Bundespräsident mit moralischem Gewicht: Dies gehört zu den historischen Verdiensten des Roman Herzog. Die seither von den Gedenkveranstaltungen ausgehende Botschaft, sich dem Rechtsextremismus entgegenzustellen, ist unverändert aktuell, ja angesichts der Mordserie der NSU-Bande aktueller denn je.

Dereinst forderte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder den "Aufstand der Anständigen". Viele, die dem Ruf folgten, haben anständig eins auf die Mütze bekommen. Bundestagpräsident Norbert Lammert rief im Hohen Hause dazu auf, sich gegen Rechtsextremismus zu engagieren. Jene, die sich engagieren, nannte er "Menschen, die ein Beispiel geben und Mut machen". Es gehört wahrlich eine gehörige Portion Courage dazu: In Sachsen kann man dabei als Landtagsabgeordneter sogar seine Immunität verlieren. Als oberstem Repräsentanten der Legislative geziemt es sich für Lammert nicht, die Judikative zu kritisieren. Doch letztlich sind es nur allzu häufig Richter, die Zusammenrottungen von Nazis gestatten, die zuvor von der lokalen Exekutive verboten wurden.

Lammert hat recht, wenn er sagt, dass der latente Antisemitismus bei 20 Prozent der Bundesbürger 20 Prozent zu viel seien. Dies zu ändern, ist ein kategorischer Imperativ für alle Demokraten. Da verwundert es schon, wenn Politiker die Abgeordneten der antisemitischen NPD und der Linkspartei auf eine Stufe stellen und meinen, bei antisemitischen Schmierern handele es sich oft um pubertierende Jugendliche.

Die Parabel vom Judenwitz, der nach Auschwitz führt, mag überspitzt klingen: Doch schon "Reichsparteitag"-Vergleiche sind keine Sprachflapsigkeit. Es wäre auch viel gewonnen, wenn man den industriell organisierten Massenmord der Nazis an den sechs Millionen europäischer Juden nicht mit dem unbedarft klingenden Wort Holocaust umschreibt und es auch noch englisch ausspricht.

Der dramatische Bericht von Marcel Reich-Ranicki über das Warschauer Ghetto heute im Parlament möge nochmaliger Anlass sein, Antisemitismus und Rechtsextremismus im Lammertschen Sinne überall die Stirn zu bieten. In einem Land wie dem unseren, für welches das Existenzrecht Israels Staatsräson ist, sollte dies Verfassungsrang erhalten.

Bleskin.jpg

Manfred Bleskin kommentiert seit 1993 das politische Geschehen für n-tv. Er war zudem Gastgeber und Moderator verschiedener Sendungen. Seit 2008 ist er Redaktionsmitglied in unserem Hauptstadtstudio in Berlin.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen