Kommentare

Zwischenruf Der Schlüssel heißt Augenhöhe

Erdogan und Merkel bei einer Pressekonferenz im Bundeskanzleramt.

Erdogan und Merkel bei einer Pressekonferenz im Bundeskanzleramt.

(Foto: dpa)

In den 50 Jahren, die seit der Unterzeichnung des Anwerbeabkommens vergangen sind, hat sich das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei stark verändert. Wenn beide Seiten dies akzeptieren und ihren Bürgern vermitteln, dann kommt auch die Integration hierzulande weiter voran.

Der gemeinsame Auftritt von Angela Merkel und Recep Tayyip Erdogan auf dem Festakt zum 50. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens und die anschließende Pressekonferenz sollten nicht darüber hinwegtäuschen: Viele Probleme in den Beziehungen bleiben offen. Eine Vollmitgliedschaft der Türkei kommt für diese Bundesregierung überhaupt nicht infrage. Dabei könnte der boomende Mann am Bosporus mit seinem achtprozentigen Wirtschaftswachstum der 27er Gemeinschaft ein besserer Partner sein als das schwächelnde Griechenland. Trotz der bitteren Worte des türkischen Regierungschefs an die Adresse Deutschlands in Sachen EU wird immer deutlicher, dass ein Beitritt für Ankara nicht mehr an vorderer Stelle seiner außenpolitischen Agenda steht. Die Türkei blickt nach Osten, wo nicht nur die Sonne aufgeht, sondern auch die meisten Rohstoffe zu finden, die für die Fortsetzung ihres wirtschaftlichen Wachstums unerlässlich sind.

Angela Merkel traf einen Politiker, der vor Selbstbewusstsein kaum noch gehen kann. Umso mehr als er nicht nur wirtschaftliche Erfolge aufzuweisen, sondern auch die Armeeführung als politischen Faktor neutralisiert hat. Inwieweit Letzteres von Dauer ist und die sich weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich zu sozialen Spannungen führt, bleibt abzuwarten. Fakt jedenfalls ist, dass derzeit mehr Türken Deutschland in Richtung Türkei verlassen als umgekehrt. Und das sind vor allem jene, die neben Türkisch auch fließend Deutsch sprechen. Insofern geht das Argument der Kanzlerin, das Erlernen der deutschen Sprache sei der Schlüssel zu Integration, am Kern des Problems vorbei. Dabei gleicht der Zwist, welche Sprache ein Kind zuerst erlernen soll, deutsch oder türkisch, dem Streit, ob zuerst das Huhn oder das Ei da war. In den Banlieues von Paris sprechen Kinder und Enkel der nordafrikanischen Einwanderer ebenso gut französisch wie die der Bewohner des 16. Arrondissements.

Das Problem sind die oft mangelhaften Schul-, Arbeits- und Weiterbildungsangebote an türkischstämmige Kinder und Jugendliche. Andererseits haben viele Zuwanderer aus ländlichen Gebieten ein der deutschen Gesellschaft eher fremdes Wertesystem. Der Besitz eines Gemüseladens gilt häufig eher als Statussymbol denn ein fester Arbeitsplatz in einem Industriebetrieb oder Büro.

Erdogans nationalistische Botschaft an seine Landsleute - ob mit oder ohne türkischen Pass - erwächst nicht nur aus einem größeren wirtschaftlichen und politischen Gewicht des Landes: Die meisten stammen aus den strukturschwachen Gebieten Ostanatoliens, wo seine islamisch-konservative Partei AKP Hochburgen hat. Wählerstimmen aus dem Ausland sind trotz der umständlichen Teilnahmeprozedur überlebenswichtig. Insofern geht die Forderung der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, Maria Böhmer, Erdogan möge die Türken in Deutschland "loslassen", ins Leere.

Als das Anwerbeabkommen vor einem halben Jahrhundert unterzeichnet wurde, befand sich die Bundesrepublik auf aufsteigenden Ast, die arme Türkei konnte den Arbeitskräfteüberschuss nicht mehr bewältigen. Der ökonomische Aufschwung Deutschlands ist somit auch das Werk der türkischen und anderer ausländischen Arbeitskräfte. Heute stehen sich zwei Staaten auf gleicher Augenhöhe gegenüber. Wenn beide Seiten dies akzeptieren und ihren Bürgern vermitteln, dann kommt die Integration auch weiter voran.

Bleskin.jpg

Manfred Bleskin kommentiert seit 1993 für n-tv das politische Geschehen. Er war zudem Gastgeber und Moderator verschiedener Sendungen. Seit 2008 ist Bleskin Redaktionsmitglied in unserem Hauptstadtstudio in Berlin.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen