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Zwischenruf Nur die Spitze des Eisbergs

Es ist eine Binsenwahrheit, dass Wirtschafts- und Finanzkrisen politische Krisen nach sich ziehen. Die Eine-Million-Euro-Frage ist immer nur, wann. In Deutschland muss sich erweisen, ob es Angela Merkel auf der Kapitänsbrücke gelingt, die Klippen mit einem Bankenrettungs- und zwei Konjunkturpaketen zu umschiffen. Die Mannschaft scheint den Kurs mitzutragen und bleibt ruhig.

In Island hat es etwas mehr als ein Jahr gebraucht, bis die Regierung aus rechtsliberaler Unabhängigkeitspartei und sozialdemokratischer Allianz zerbrach. Unmittelbarer Anlass waren tagelange Proteste, vor allem in der Hauptstadt Reykjavik. Dabei wurden die Nachkommen der Wikinger wohl zum ersten Mal seit der Kalmarer Union vor einem runden halben Jahrtausend wieder gewalttätig. Tränengas jedenfalls setzte die Polizei letztmalig 1949 ein.

Beeinflusst durch den Neoliberalismus eines Milton Friedman hatte die Unabhängigkeitspartei in den neunziger Jahren munter drauflos privatisiert, darunter die drei größten Banken des Landes. Deren Wert betrug zeitweilig das Mehrfache des Bruttoinlandsproduktes. Hohe Zinsen veranlassten Heuschrecken, in Niedrigzinsstaaten geborgtes Geld zu hohen Zinsen in isländischen Kronen in dem nordatlantischen Inselstaat zu deponieren; als den Hedge Fonds zunehmend knapp bei Kasse wurden, zogen sie das Geld ab. Unter den Geldkraken befand sich auch die US-Bank Bear Stearns, die dann selbst über die eigene Maßlosigkeit stolperte. Der Kapitalstrom nach Island versank im Malstrom. Isländische Finanzinstitute waren ihrerseits auf Shoppingtour rund um die Welt gegangen, wofür ihnen aufgrund des fallenden Wechselkurses der Krone eine milliardenschwere Rechnung präsentiert wurde. Der vom Staat geförderte Konsum auf Pump brach ein, die private Nachfrage sank um zehn Prozent. Die praktisch unbekannte Arbeitslosigkeit schnellte auf mehr als zehn Prozent nach oben. Die drei privatisierten Banken sind derweil wieder in öffentlicher Hand. Ein Staatsbankrott konnte nur durch eine milliardenschwere Finanzspritze des Internationalen Währungsfonds abgewendet werden.

Die Talsohle ist breit

Eine Minderheitsregierung aus Sozialdemokraten und den sozialistischen Links-Grünen soll das Land bis zu vorgezogenen Wahlen führen, bei denen eine kräftige Verschiebung des politischen Kräfteverhältnisses nach links erwartet wird. Die mögliche künftige Ministerpräsidentin, die derzeitige sozialdemokratische Außenministerin Ingibjörg Gsladttir, ist eine sozial engagierte Frau. Ob sie es schaffen kann, nicht nur die politische, sondern auch die Wirtschafts- und Finanzkrise zu beenden, ist fraglich. Die Talsohle ist breit und wird wohl erst im nächsten Jahr durchschritten.

Island ist das erste Land, das es auf der Spitze des Eisbergs kalt erwischt. Auch Großbritannien mit seinem maßlos aufgeblähten privaten Finanzsektor droht trotz der umfangreichen Maßnahmen der Labourregierung von Gordon Brown ein Staatsbankrott. Brown hatte nicht mit der schier unüberschaubaren Masse an faulen Krediten, die unter der Meeresoberfläche trieben, gerechnet. Schon wird in der Londoner 10, Downing Street ein Hilferuf an die Washingtoner 700, 19th Street nicht mehr ausgeschlossen. Dort hat der IWF seinen Sitz. Griechenland, Italien und Ungarn kämpfen mit Milliarden aus internationalen Töpfen ums finanzpolitische Überleben. Die Umfragewerte der regierenden Parteien sind im Keller. Auf der Apenninhalbinsel und dem Peloponnes gehen die Menschen zu Hunderttausenden auf die Straße, in Ungarn macht die faschistische Rechte gegen die regierenden Sozialdemokraten mobil.

Am Kap Arkona und auf dem Bodensee sind die Wogen noch geglättet. Wie lange noch, oder ob sie hochschlagen, hängt vom Erfolg oder Misserfolg des Gegenkurses der MS "Großkoalition" ab.

Manfred Bleskin kommentiert seit 1993 für n-tv das politische Geschehen. Er war zudem Gastgeber und Moderator verschiedener Sendungen. Seit 2008 ist Bleskin Redaktionsmitglied in unserem Hauptstadtstudio in Berlin.

Quelle: ntv.de

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