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Kommentar Palästinenser am Abgrund

Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem

"Bisher haben es die Palästinenser geschafft, sich immer bis an den Rand des Abgrundes zu manövrieren, aber in letzter Sekunde nicht herunter zu springen." Diese Beobachtung eines israelischen Politologen zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der PLO mitsamt dem schwarzen Septembers in Jordanien 1970, Beirut 1982 und zweimal Intifada, den Aufständen gegen Israel. Jetzt, im Gazastreifen, wird mit äußerster Brutalität zerschlagen, was die Palästinenser auf dem Weg zu ihrem künftigen Staat aufgebaut haben.

Ägypten, einziger Vermittler für die täglich ausgehandelten und gebrochenen Waffenstillstände, vermutet "fremde Hände" hinter einem "Plan", so Präsident Hosni Mubarak nach einem Gipfeltreffen mit Jordaniens König Abdullah. Deren Geheimdienstchefs zeigen offener mit dem Finger auf mögliche Drahtzieher: Iran, Syrien und sogar El Kaida.

Die Grausamkeit, mit der im Gazastreifen die Kämpfer "schießen, um zu töten" und ihren entführten Geiseln in die Beine schießen vor deren Freilassung, erinnert an Verhältnisse in Afghanistan und Irak. Internationale Menschenrechtsorganisationen und das Internationale Komitee des Roten Kreuzes veröffentlichen empörte Kritik wegen schwerer Verstöße gegen das Völkerrecht. Die UNO Flüchtlingshilfeorganisation musste wegen der Kämpfe sieben von 18 Krankenstationen schließen, nachdem das Rote Kreuz wegen Kämpfen im Krankenhausgelände die Schließung des Hospitals in Beth Hanoun und des Schifa-Hospitals in Gaza vermeldete. Patienten wurden da sogar auf dem Operationstisch ermordet.

Israelischen Behauptungen, wonach die schiitische Hisbollah und Iran hinter den Kämpfen stecken, bestätigen inzwischen auch die Ägypter. Über die Hisbollah im Libanon gelangte nicht nur die Taktik der Selbstmordattentate zur palästinensischen Hamas. Auch andere Kampfmethoden der Hamas, so der Sturm mit einem als Pressefahrzeug getarnten Jeep auf einen israelischen Grenzposten entspreche bekannten Vorlagen aus Libanon. Besuchen von Spitzenpolitikern der Hamas in Teheran, darunter des in Damaskus lebenden Exilchefs Chaled Maschal folgen Millionensummen und die Lieferung immer modernerer Waffen in den Gazastreifen durch Schmugglertunnels unter der Grenze zu Ägypten. Die in Afghanistan und Iran bestens trainierten, hochmotivierten und mit raketengetriebenen Panzerfäusten neuester Bauart ausgestatteten Hamaskämpfer sind den frustrierten Fatah-Leuten weit überlegen. Syrien finanziert und lenkt schon seit Jahren die extremistische Dschihad Islami. Sie alle haben sich die Zerstörung Israels auf die Flagge geschrieben, aber auch eine Abschaffung der Autonomiebehörde, das Produkt der Osloer Verträge mit Israel.

So wurden die Polizisten der Fatah-Organisation von Sprechern der Hamas in Gaza schon als "Kollaborateure Israels" bezeichnet, denen in den palästinensischen Gebieten seit 1987 ein besonders grausiges Schicksal droht. Nicht nur die schlechte Ausrüstung der Fatah-treuen Streitkräfte ist das Problem. Sie sitzen sie tatenlos in ihren Stellungen und in den repräsentativen Gebäuden der Autonomiebehörde. Gemäß unbestätigten Berichten aus Gaza werden diese schrittweise überrannt, während die Fatah-Kämpfer schwere Verluste einstecken oder sich ergeben, wie in Khan Junis. Die Hamas habe schon Teile des Gazastreifens "erobert". Abbas redet von einem "Militärputsch". Gleichzeitig wagt er nicht, seinen Fatah-Leuten den Befehl zum Angriff zu erteilen. Abbas steht vor der Alternative, den Gazastreifen an die Hamas zu verlieren oder als jener Palästinenserführer in die Geschichte einzugehen, der den Befehl zum Bürgerkrieg erteilt hat.

Sogar der allmächtige Arafat hatte nie ernsthaft versucht, die Extremisten in den eigenen Reihen wirksam zu bekämpfen, obgleich deren Anschläge gegen Israel auch stets ein Untergraben seiner Autorität bedeuteten. Die Weigerung Arafats und heute des Abbas, die "Zerstörung der Infrastruktur des Terrors" umzusetzen, musste unweigerlich zum Bürgerkrieg führen. Kein Staat kann auf Dauer bestehen, wenn bewaffnete Milizen die Staatsautorität in Frage stellen und die Regierung auf das Durchsetzen von "Recht und Ordnung" verzichtet. Was im Libanon während des Bürgerkriegs fast geschah und ihm bis heute von der Hisbollah als "Staat im Staate" droht, geschieht jetzt mit der Hamas im Gazastreifen. Obgleich sie demokratisch mit Mehrheit gewählt wurde, gehen die Kämpfer ihrer Miliz gegen die staatlichen Institutionen vor, beschießen den Sitz des Präsidenten, stürmen Polizeistationen und bekämpfen die offiziellen Streitkräfte. Die freilich unterstehen Fatah-Partei, die bei den Wahlen ihre 40 Jahre andauernde Vorherrschaft verlor.

Quelle: ntv.de

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