Pressestimmen

Jenseits einer Liebesaffäre CDU-Politiker unterliegt Tugendwächtern

Um den tiefen Fall des Christian von Boetticher moralisch bewerten zu können, fehlt der Öffentlichkeit in Wahrheit Zuständigkeit und Kompetenz. Denn auch Liebe in Zeiten von Facebook ist zu allererst . Und auch die Kommentatoren der deutschen Tageszeitungen können nicht wissen, was das für eine Beziehung war zwischen dem damals 39-jährigen aus Düsseldorf. Sie widmen sich eher der politischen Brisanz des Falls von Boetticher

Christian von Boetticher steht vor einem Scherbenhaufen.

Christian von Boetticher steht vor einem Scherbenhaufen.

(Foto: picture alliance / dpa)

So erhebt die Frankfurter Rundschau von Boetticher zum Opfer christdemokratischer Tugendwächter. "Einen sachlichen Grund, warum dieser Mann nicht Ministerpräsident werden kann, gibt es nicht. Verständlich wird von Boettichers Rückzug von allen Spitzenämtern - er will nur noch sein Landtagsmandat behalten - vor allem aus parteiinternen Gründen. Schließlich wollte von Boetticher für jene Partei antreten, die sich selbst bisher am schärfsten als Verfechterin bürgerlicher Werte wie Familie, Treue, Disziplin, Glaubwürdigkeit und Moral inszeniert. Keine Partei hat mit der Liberalisierung unserer Gesellschaft so viel Mühe wie die Union. Sie ist durch diesen Prozess in eine tiefe Identitätskrise geraten. Ein Wahlkampf für von Boetticher wäre gerade in dieser Situation der eigenen Klientel wohl nicht zuzumuten. Christian von Boetticher darf insofern als Opfer christdemokratischer Tugendwächter gelten."

Der Kommentator der Leipziger Volkszeitung findet es schlichtweg gut, dass der Mann mit dem "irrealen 2.0-Selbstbild" nicht zur Macht gelangte und schreibt: "Der CDU-Mann von Boetticher scheint einer Schülerin aus der Jungen Union via Facebook mit vielerlei Informationen aufgewartet zu haben, um das junge Mädchen zu beeindrucken. Offenbar floss in diesem Stadium Geheimes, Vertrauliches und Wünschdirwas zu einem irrealen 2.0-Selbstbild zusammen. Vielleicht ist es gut, dass auf derlei Basis keine wirkliche Macht, keine dauerhafte Paarung zustande kam. Aber was sind das für schräge politische Verhältnisse in einem Bundesland mit dieser Vergangenheit, dass die CDU ein derartiges Verfahren inszeniert, um einen vielleicht nur unreifen Mann loszuwerden, der bis gestern noch die politische Rettung zu sein schien?"

Der CDU-Politiker von Boetticher war den Wählern seiner Partei offenbar nicht mehr zuzumuten.

Der CDU-Politiker von Boetticher war den Wählern seiner Partei offenbar nicht mehr zuzumuten.

(Foto: picture alliance / dpa)

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung sorgt sich im Fall von Boetticher eher um die Rückendeckung des Politikers in der CDU und schreibt: "Im Falle von Boettichers wurde es zum Maßstab, weil er Spitzenkandidat war und, wie er sagte, weil es 'objektive' Gründe gab, dass er erpressbar sei. Warum eigentlich? Die Opposition dürfte ihm aus der Liebesaffäre im bevorstehenden Wahlkampf keinen Strick drehen können – gemessen an ihren moralischen Maßstäben, die in der Gesellschaftspolitik noch ganz andere Wege gehen wollte oder gehen will. Anders gesagt: Wer zur Odenwaldschule schweigt, kann in Kiel nicht den Moralapostel spielen. Erpressbar also dann durch die Öffentlichkeit, die Medien? Das zielt auf die eigene Partei. Denn nicht von Boetticher, nicht die Medien, nicht die Moral entscheiden darüber, was schlichtweg Politik ist. Es gilt die alte Regel: Zurücktreten muss nur, wer keine Rückendeckung mehr hat."

Ins gleiche Horn stößt die Hessische/Niedersächsische Allgemeine und schlussfolgert, dass es neben der moralischen auch eine politische Bewertung gibt. Und da hat der abgestürzte Hoffnungsträger das Notwendige gesagt: "Den von ihm selbst aufgestellten Maßstäben der Berechenbarkeit und Geradlinigkeit hat er nicht entsprochen. Das ist sachlich-höflich formuliert. Man darf vermuten, dass seine Parteifreunde aus dem tief konservativ geprägten CDU-Landesverband diesen Vorgang erheblich drastischer bewertet haben."

Die Rhein-Neckar-Zeitung aus Heidelberg lenkt den Blick auf den Rücktritt des CDU-Spitzenkandidaten: "Christian von Boetticher war aber auch jenseits seiner Liebesaffäre angreifbar. Er ließ oft den nötigen Ernst für die Sache nicht erkennen. Jetzt stürzte er seine Partei, die CDU, wieder einmal in eine tiefe Krise. Sein Verhalten war parteischädigend. Die Tragik der Geschichte: Die CDU muss ihn weiterhin in der Fraktion dulden, weil ohne Boetticher Schwarz-Gelb keine Mehrheit mehr hätte. Man sieht: Ist die Not nur groß genug, dann spielen moralische Überlegungen keine ganz so große Rolle mehr."

"Ob nun Jost de Jager oder ein anderer - den neuen Spitzenkandidaten der Christdemokraten in Schleswig-Holstein erwartet ein politisches Himmelfahrtskommando", bemerkt das Westfalen-Blatt und urteilt, dass es für die Bundespartei kaum besser aussieht: "Der Aderlass an etablierten Köpfen, die klar einen Standpunkt vertreten und der CDU so Profil geben, ist hinreichend bekannt. Ebenso dramatisch aber erscheint mittlerweile der Abgang von Nachwuchsleuten, die über den Status eines Hoffnungsträgers nicht hinauskommen, weil sie sich auf die eine oder andere Weise selbst demontieren. In dieser Reihe stehen Dieter Althaus, Stefan Mappus und nun auch Christian von Boetticher. Die CDU muss sich nicht nur um ihre gegenwärtige Lage Sorgen machen, sondern auch um ihre Zukunft."

Auch die Märkische Allgemeine aus Potsdam geht davon aus, dass die Affäre mit der minderjährigen Schülerin nur das I-Tüpfelchen auf die Angreifbarkeit des CDU-Politikers war. "Nun ist CDU-Spitzenkandidat Christian von Boetticher neun Monate vor der Wahl über eine frühere Liebesbeziehung zu einer 16-Jährigen gestolpert. Was zunächst die Frage aufwirft: Warum eigentlich? Rein juristisch ist gegen eine solche Affäre nichts einzuwenden. Ein 39-Jähriger darf ein Verhältnis mit einer 16-Jährigen haben. Der Rest, so könnte man annehmen, ist Privatsache. Aber ganz so einfach ist es nicht. Die CDU hat von Boetticher nominiert, weil sie wiedergewählt werden will. Und die Beziehung zu einer Minderjährigen passt in den Augen vieler, gerade konservativer, Wähler, nun mal nicht zum Landesvateramt. Doch auch das ist nur die halbe Wahrheit. Wer ohnehin umstritten ist - und so war es bei Boetticher - der darf sich keinen 'Fehltritt' leisten."

Quelle: ntv.de, zusammengestellt von Peter Richter

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