NSU-Prozess verschoben "Das konnte nicht gut gehen"
15.04.2013, 23:19 Uhr
Die Bildkombo zeigt undatierte Porträtfotos der zehn Neonazi-Mordopfer Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic und Polizisten Michele Kiesewetter (oben, v.l.), sowie Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodorus Boulgarides, Mehmet Kubasik und Halit Yozgat (unten, v.l).
(Foto: dpa)
Das Oberlandesgericht München verschiebt nach einem Rüffel aus Karlsruhe den Prozess um die Neonazi-Mordserie. Die Kommentatoren der deutschen Tageszeitungen zeigen durchweg Verständnis für die Entscheidung des Gerichts, bescheinigen ihm aber auch ein dilettantisches Vorgehen vom Vorfeld.
Die Hannoversche Neue Presse kommentiert wie folgt: "Es ist einer der wichtigsten Prozesse in der Bundesrepublik - und nun hat das Ganze 'Slapstick-Charakter' bekommen. So reagierte einer der Opferanwälte auf die Tatsache, dass weiterhin nicht über die Mordserie der NSU-Terroristen diskutiert wird, sondern über die Tatsache, wer auf den Journalistenstühlen sitzen darf. Was für alle Beteiligten, vor allem für die Angehörigen der Opfer, eine Qual ist - schließlich bereiten sie sich seit Monaten auf diesen Tag vor. Und nun? Stehen sie erst einmal wieder vor dem Nichts. Wie durch diese Entscheidungen das Vertrauen der Türken in das deutsche Rechtssystem wachsen soll (was zum Beispiel die Grünen hoffen), bleibt ein Rätsel. Derzeit hat man nur den Eindruck, dass das Gericht noch nicht einmal in der Lage ist, eine simple Platzfrage zu klären."
Die tageszeitung lobt indes die Entscheidung des Oberlandesgerichts: "Doch, die Entscheidung des OLG ist nachvollziehbar und richtig. Zwar hätte es das Bundesverfassungsgericht ausreichen lassen, dass drei zusätzliche Presseplätze an türkische Medien vergeben werden, so der Eilbeschluss von Freitag. Die Karlsruher Richter haben aber auch die Möglichkeit erwähnt, das ganze Akkreditierungsverfahren zu wiederholen. Und nach den Unregelmäßigkeiten im Vorfeld, die nicht nur türkische Medien benachteiligten, macht es Sinn, ein unangreifbares Verfahren zu wählen. Keine Seite sollte wegen einer vermeintlich mangelhaften Öffentlichkeit mit der Revision drohen können."
Die Rheinpfalz aus Ludwigshafen schreibt: "Es wäre ein Desaster, würde das Verfahren den Standards nicht genügen: Unerträglich lange wurde die Mordserie an neun Menschen mit ausländischen Wurzeln und einer jungen Polizistin nicht aufgeklärt. Der Rechtsstaat hat ein lupenreines Verfahren bitter nötig - zum Beweis, dass er funktioniert. (...) Der wohl seit Zeiten der linksterroristischen Rote Armee Fraktion wichtigste Prozess mit politischem Hintergrund verdient ein Gericht, das mit dieser schwierigen Materie souverän umgeht. Dieser Beweis muss erst noch erbracht werden."
Auch die Berliner Zeitung hält es für richtig, dass das OLG den NSU-Mordprozess verschiebt und die Sitzplätze für Journalisten neu vergibt. "Zwar bedeutet die Verschiebung für etliche Nebenkläger eine Katastrophe. Sie hatten sich seelisch auf den Beginn des Verfahrens eingestellt und fühlen sich jetzt zurückgestoßen, viele hatten Urlaub genommen und fühlen sich jetzt vom Gericht kalt ausgesperrt. Dennoch ist die Verschiebung richtig - unter der Bedingung, dass das OLG aus seinem bisherigen Versagen die richtigen Konsequenzen zieht."
Der Berliner Tagesspiegel versteht nicht, weshalb man nicht einen einfacheren Weg gegangen ist. "Der 6. Strafsenat hätte doch, wie selbst in Justizkreisen erwartet worden war, einen Teil des für Zuschauer gedachten Blocks im Saal A 101 türkischen Medien überlassen können. Oder er hätte erlauben können, dass deutsche Journalisten, die das ja angeboten haben, ihre festen Plätze mit türkischen Kollegen tauschen. Aber nein: Das OLG setzt ein neues Akkreditierungsverfahren an und verschiebt den Prozess. Dessen Zeitplan mit der Befragung von fast 370 Zeugen ist nun schon vorab aus den Fugen geraten."
"All jene Journalisten, die schon den begehrten Akkreditierungsausweis in Händen hielten, werden sich wohl ärgern", schreibt das Straubinger Tagblatt. "Doch dieses Zeichen von Lernbereitschaft und Transparenz seitens des Gerichts ermöglicht es, wieder darüber zu diskutieren, worum es bei dem Verfahren wirklich geht: nämlich die haarsträubenden und brutalen Umtriebe rechtsextremer Gewalttäter in unserem Land sowie das Versagen der Behörden. Warum nicht gleich so?"
Zum Schluss die "Stuttgarter Zeitung". Für sie ist das NSU-Verfahren nicht nur "einer der größten, er ist auch einer der politisch besonders brisanten Strafprozesse". "Er wird international sehr genau beobachtet. Das Münchner Gericht hat unsensibel und unklug gehandelt. Es hat allein auf die Regeln der Strafprozessordnung geschaut, was ja notwendig ist, dabei aber die Öffentlichkeit und ihre Belange völlig aus dem Auge verloren. Selbst als ein Sturm der Empörung über es hereinbrach, hat es nicht nachgebessert, sondern versucht sich wegzuducken. Das konnte nicht gut gehen."
Quelle: ntv.de