ESM-Urteil des Verfassungsgerichts "Der Bundestag muss handeln"
19.06.2012, 20:55 UhrDie Bundesregierung muss das Parlament bei Verhandlungen zur Euro-Rettung schneller und besser informieren, sagt das Bundesverfassungsgericht. Bundeskanzlerin Angela Merkel verspricht, das Urteil werde künftig "Leitlinie" ihres Handelns sein. Nur: Warum nicht gleich so?, fragen die Kommentare in den deutschen Zeitungen.
Die Süddeutsche Zeitung etwa schreibt, bei der Rettung des Euro sei die Demokratie verrückt worden. "Das Bundesverfassungsgericht rückt sie nun wieder gerade. Die Parlamente sind nämlich nicht die Bettler unter dem europäischen Tisch, die darauf warten müssen, dass Krümel vom Tisch des Rates herunterfallen. In diese Rolle hat sie aber die EU-Politik gedrängt, diese Rolle hat die Merkel-Politik den Bundestagsabgeordneten zugewiesen. Demokratie ist aber keine exklusive Veranstaltung der Exekutive."
"Dem Bundestag hilft die Entscheidung nur begrenzt", meint dagegen die Stuttgarter Zeitung. "Informiert sein heißt noch lange nicht, an der Entscheidungsfindung wirksam beteiligt zu sein. Abstimmen darf das Parlament auch künftig nur über das, was die Regierungen zuvor ausgehandelt haben, was in der Praxis nicht mehr verändert werden kann. Der Machtverlust des Bundestags, die mangelnde demokratische Legitimation der Europapolitik wird durch Informationen allein nicht ausgeglichen. Aber an diesen Kern kommt Karlsruhe nicht mehr heran. Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht."
Dennoch ist es aus Sicht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung "bitter nötig", dass das Parlament sich ein Bild machen und "für das Gemeinwesen bedeutende Vorgänge" öffentlich machen kann. "Denn der ESM ist ein Vertrag, der dazu geeignet ist, Deutschland tief in den europäischen Schuldenturm zu führen - ohne Chance, je wieder Licht zu sehen. Und dafür soll das Parlament nur pauschal und nachträglich seine Zustimmung geben? Nein, darüber muss geredet und beraten werden. Das letzte Wort wird auch über den (zweifelhaften) Inhalt des ESM das Bundesverfassungsgericht sprechen." Und die Zeitung fügt hinzu: "Doch wenn die anderen Organe nicht im Rahmen der Verfassung arbeiten wollen oder können, bleibt nur der Notdienst. Sonst ist der Patient bald tot."
"Die Entmachtung des Parlaments ist die erste Rate der gewaltigen Zeche, die nicht allein die deutsche, sondern jede westliche Demokratien als Folge der Finanzkrise zu zahlen hat", so die Frankfurter Rundschau. "Wenn aber ein Volk seine Vertreter nur mehr als Dienstleister der Wirtschaft erlebt, wenn ihm der Glaube an den Gestaltungswillen und die Gestaltungsmöglichkeit der Politik verloren geht, wenn es das Parlament ausschließlich als willenlosen Absender von den Finanzmärkten bestellter Rettungspakete betrachtet, dann steht die Demokratie vor dem Ruin. Aufgabe des Bundestages ist es, sie davor zu bewahren. Das Bundesverfassungsgericht kann ihm dabei helfen. Handeln muss er schon selbst."
Der Fränkische Tag moniert derweil die Unsitte, "wichtige Themen außerhalb des Parlaments zu diskutieren - in Talk-Shows, in Expertengremien, in Kommissionen. Es spricht nichts dagegen, sich bei schwierigen Fragen Rat von außerhalb zu holen. Aber für die Debatte und die Entscheidung gibt es nur einen Ort: den Bundestag. Wer das nicht versteht oder ignoriert, missachtet nicht nur unsere Verfassung, sondern auch uns - den Wähler, den Bürger."
Quelle: ntv.de