Pressestimmen

Amoklauf oder Terrorismus? "Die Gewalt wirkt entgrenzt"

Tausende nehmen in Frankreich und Israel Abschied von den Opfern des Anschlags von Toulouse. Währenddessen belagert die Polizei den mutmaßlichen Mörder. Wo kommt dessen Gewaltbereitschaft her, fragen die Tageszeitungen. Und suchen Antworten.

Die Leipziger Volkszeitung schreibt: "Es gibt keinen neuen Anders Breivik in Toulouse. Keinen Nationalisten, der sein verzerrtes Internet-Weltbild in einem mörderischen Rachefeldzug auslebt. Vielmehr scheint die Fratze des Islamismus wieder das Licht der schockierten Öffentlichkeit gesucht zu haben. Und doch gibt es Anders Breivik auch in Toulouse. Denn fanatischer Glauben allein erklärt nicht, wie einer zum Mörder wird. Es ist wie so oft bei derartigen Attentaten: der Boden wird zwar durch blindwütigen Fanatismus bereitet. Doch die Schwelle zur Tat durchschreitet der einzelne Mensch allein - irregeleitet durch den Wahnglauben an die eigene Größe und eine gerechte Mission."

Der Tagesspiegel aus Berlin meint: "Es erscheint beinahe zweitrangig, welche Motive die Täter nennen. Amoklauf und Terrorismus werden eins. Utøya und Frankfurt und Toulouse erinnern an Winnenden und Erfurt. Die Gewalt wirkt entgrenzt. Ein beklemmendes Szenario: Die hochgerüsteten Polizeien und Nachrichtendienste Westeuropas können aufwendig geplante Anschläge von Al Qaida meist vereiteln, doch den Angriffen fanatisierter Einzeltäter oder Kleingruppen ist schwerer vorzubeugen. Diese Schwäche registrieren Extremisten genau. Und Al Qaida gewinnt, weil sich jemand wie M. zur Organisation bekennt. Als werbe ein freier Mitarbeiter für die Terrorfirma."

Präsident Sarkozy bei der Trauerfeier für drei getötete Soldaten.

Präsident Sarkozy bei der Trauerfeier für drei getötete Soldaten.

(Foto: AP)

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung zieht einen Vergleich mit der NSU: "Der Alb, der auf der Seele der Nation lag, ist gewichen: die Angst davor, dass der Serienmörder von Montauban und Toulouse noch einmal zuschlagen könnte, an einem Ort, wo die Zahl der Opfer noch einmal größer gewesen wäre. Offenbar war es eine Internet-Recherche, welche die Polizei, schneller als erwartet, auf die richtige Spur brachte. Zu klären wird sein, wie es möglich war, dass ein Täter, der schon mehrfach auffällig war und deshalb von den Sicherheitsbehörden beobachtet wurde, dann doch sieben Personen ermorden konnte - der Vergleich mit den Schandtaten der NSU in Deutschland drängt sich auf. Die anfänglichen Hinweise auf einen islamistisch-dschihadistischen Hintergrund des Täters scheinen sich zu bestätigen."

Die Braunschweiger Zeitung hingegen sieht nur einen Zusammenhang: "Es gibt bezüglich der Motive keine Parallelen; es gibt nur eine Parallele zwischen der Zwickauer Zelle und dem französischen Mörder: Es ist die Kaltblütigkeit der Täter, die sich in einer subjektiven Wahnwelt bewegen. Keine Gesellschaft ist vor solchen Außenseitern sicher, weil es totale Sicherheit nicht gibt. Der Staat ist zur Gefahrenabwehr und zum Schutz der Bürger verpflichtet; diese Aufgabe ist nur zu meistern, wenn ein breiter Konsens über Gewaltfreiheit besteht und wenn Sicherheit und Datenschutz sich nicht allein in Konfrontation und Misstrauen ihrer Protagonisten ergänzen."

Die Berliner Zeitung sieht die Hintergründe des Verbrechens in der Vergangenheit: "Zuverlässig führt die Spur des Terrors einmal mehr nach Algerien und in die koloniale Vergangenheit Frankreichs. Auch als zuletzt Mitte der 90er Jahre eine Welle von Bombenanschlägen Paris und Lyon erschütterte, waren es Algerier, die den damals in dem Mittelmeerland tobenden Bürgerkrieg auf den Boden der einstigen Kolonialmacht trugen. Das hat Gründe: Bis heute hat sich Frankreich mit der ehemaligen Kolonie und deren Menschen nicht ausgesöhnt. Fast auf den Tag genau 50 Jahre ist es her, dass der Algerienkrieg am 19. März 1962 mit dem Friedensschluss von Evian endete. Frankreich war der Jahrestag keine offizielle Veranstaltung wert."

Die Badischen Neuesten Nachrichten blicken in die Zukunft: "Schon einmal, kurz vor der Präsidentschaftswahl 2002, hatte eine Reihe krimineller Übergriffe, wie ein blutiger Amoklauf in Nanterre und Attentate auf jüdische Einrichtungen, das Land in Angst und Schrecken versetzt. Dies hatte heftige politische Debatten über die Innere Sicherheit ausgelöst und schließlich dem Rechtspopulisten Jean-Marie Le Pen in die Stichwahl mitverholfen. Diesmal sollten sich alle Kandidaten tunlichst jeglicher Instrumentalisierung enthalten."

Die Neue Osnabrücker Zeitung wählt einen ähnlichen Ansatz: "Die schockierenden Taten offenbaren jedoch, wie hilflos und  zerbrechlich eine Staatsmacht tatsächlich ist, trotz aller zur Schau gestellten polizeilichen und militärischen Stärke, wie es  etwa Frankreich gern am Nationalfeiertag praktiziert. In dieser Lage geben die Juden und Muslime in Frankreich das einzig richtige  Signal: Sie stehen zusammen und warnen gemeinsam die  Präsidentschafts-Kandidaten davor, die monströsen Taten zu instrumentalisieren. Staatschef Nicolas Sarkozy sollte sich diesen  Appell zu Herzen nehmen und nicht weiter mit populistischen  Plattitüden auf Stimmenfang gehen. Seine Forderung als damaliger  Innenminister, Vorstädte mit dem Hochdruckreiniger zu säubern, war  schon schlimm genug."

Quelle: ntv.de, zusammengestellt von Thomas E. Schmitt

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