Sarrazin-Ausschluss abgeblasen "Die SPD hat klein beigegeben"
26.04.2011, 21:26 UhrDie umstrittene Entscheidung der SPD-Spitze, das Ausschlussverfahren gegen Ex-Bundesbanker Sarrazin zu beenden, bewertet die deutsche Presse als Einknicken vor dem Stammtisch. Politische Führung sehe anders aus. Genau hier liege das Problem der Sozialdemokratie: "Keiner weiß, wo und wofür sie steht. Oft ist sie dagegen und dafür zugleich, dümpelt orientierungslos dahin."
Nach Ansicht der Berliner Zeitung erlebt die SPD zurzeit ein kommunikatives Debakel. "Die Verantwortung dafür trägt vor allem Sigmar Gabriel. Wie bei kaum einem anderen Thema hat sich der Parteichef persönlich in der Debatte exponiert. Niemals dürfe die SPD opportunistisch sein und einen Mann wie Sarrazin in ihren Reihen dulden, forderte er im Januar. Auch damals hätte er nach den Erfahrungen mit früheren Abweichlern wissen können, dass vor einem Parteiausschluss hohe rechtliche Hürden liegen und er möglicherweise nicht zu erreichen ist. Dass Gabriel jetzt volle fünf Tage brauchte, um sich zu dem Kompromiss mit Sarrazin zu äußern, macht sein Verhalten nicht überzeugender."

Sarrazins gestoppter Ausschluss wirft ein schlechtes Bild auf die SPD-Spitze, kommentieren die Zeitungen.
(Foto: dpa)
Auch die Leipziger Volkszeitung schiebt die Verantwortung dem SPD-Vorsitzenden zu. "Nachdem zunächst die sozialdemokratischen Sarrazin-Fans Sturm gegen die Parteispitze gelaufen waren, weil sie die Meinungsfreiheit und Bürgernähe in der SPD gefährdet sahen, rebellieren nun die Parteilinken, die sich für Sarrazin hingebungsvoll fremd schämen. Doch der Attackierte kommt als politischer Bumerang zurück. Nun droht der schwächelnden Traditionspartei eine neue Austrittsswelle. In dieser Situation taucht der wankelmütige SPD-Chef ab und leistet seiner hilflos rumrudernden Generalsekretärin Andrea Nahles nur hühnerbrüstigen Fern-Beistand. Führung sieht anders aus...Genau hier liegt das Problem der Sozialdemokratie: Keiner weiß, wo und wofür sie steht. Oft ist sie dagegen und dafür zugleich, dümpelt orientierungslos dahin."
Ähnlich kommentiert der Kölner Stadt-Anzeiger den Rückzug des Ausschlusses. "Erst hat SPD-Chef Sigmar Gabriel die Beliebtheit des Provokateurs im Volk unterschätzt, nun scheint ihn die Wut in den eigenen Reihen über denselben zu überraschen. Instinktsichere Politik sieht anders aus, Grundsatztreue erst recht. Der klügste Kommentar zum Thema stammt von Sergey Lagodinsky: 'Ich kann es in einer Partei mit einem Sarrazin aushalten, aber ich kann es nicht in einer Partei aushalten, die sich aus Angst vor dem Stammtisch einem Sarrazin nicht stellen will.' Mit welchen Argumenten will Sigmar Gabriel den Gründer des 'Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokraten' überzeugen, seinen SPD-Austritt zu revidieren?"
Die Aachener Zeitung stört sich vor allem an der Erklärung von Nahles. "Die forsche Generalsekretärin, die Hauptanklägerin im Verfahren gegen Sarrazin, glaubt an den Osterhasen. Sarrazin habe seine sozialdarwinistischen Äußerungen relativiert, Missverständnisse klargestellt und sich von diskriminierenden Äußerungen distanziert. So hörte sich die Harmoniesoße an. Nein: Das hat er nicht getan! Die SPD hat klein beigegeben, ein SPD-Leerstück."
"Gabriel und Nahles haben nachgeholt, was sie schon im Herbst hätten tun sollen", schreiben die Lübecker Nachrichten. "Sie haben das Für und Wider eines langen Ausschlussverfahrens abgewogen. Mit einem ernüchternden Ergebnis: Die Erfolgsaussichten dürften höchst vage sein, denn die Hürden liegen zu Recht hoch, Mitglieder mit unliebsamen Ansichten loszuwerden. Sarrazin wäre durch alle Instanzen gegangen - mitten im Berliner Abgeordnetenhaus-Wahlkampf und mit der Sympathie vieler SPD-Anhänger im Rücken, die seine Thesen nicht für anstößig, sondern für mutig halten. Diese Bühne wollte die SPD-Spitze dem die Partei spaltenden Ex-Senator nicht bauen. Also hat sie klein beigegeben. Das ist nachvollziehbar. Aber lachhaft ist es, das als einen Rückzieher Sarrazins zu verkaufen."
Die Pforzheimer Zeitung sieht nirgendwo Gewinner des Ausschlussverfahrens. "Gern wird das Fehlurteil gepflegt, Sarrazins Meinungsfreiheit sollte beschnitten werden. Darum geht es in der SPD nicht. Dort quält viele Genossen die Frage, wie weit darf sich jemand von den Grundwerten Humanität und Solidarität entfernen, um wohlfeil provozierend Honorare einzustreichen? Nachdem österlichen Einknicken sowohl von Sarrazin als auch der SPD, stehen beide als Verlierer da. Es bleibt ein veritabler Scherbenhaufen zurück. All jene, die darauf nun hämisch tanzen, mögen sich zurufen lassen: So schafft man die Demokratie ab."
Quelle: ntv.de, tis