Erdogans Auftritt in Soma "Euer Schmerz interessiert uns nicht"
16.05.2014, 09:27 Uhr
Nach dem Grubenunglück in der türkischen Stadt Soma ist die Trauer um die mehr als 280 Toten groß. Zusätzlich sorgt einmal mehr Premierminister Erdogan für Wut und Proteste im ganzen Land. Darüber, dass seine Rede vor Opfern und Angehörigen taktlos war und jede Form von Respekt vermissen lässt, sind sich die deutschen Tageszeitungen einig. Einige von ihnen prophezeien gar eine endgültige Wende in der türkischen Politik. Issio Ehrich zieht in seinem Kommentar auf n-tv.de allerdings vorläufig andere Schlüsse.
Aufgrund der "bestürzenden Mischung aus Eiseskälte und Aggression, mit der der türkische Premier, eigentlich ein Virtuose auf dem Klavier der Massenpsychologie, auf die Bergwerkstragödie reagiert", wirft beim Münchener Merkur die Frage auf, "in welchem Parallel-Universum Erdogan mittlerweile schwebt". Denn: "Offensichtlich sind es ja nicht der Tod und das Leid, was ihn am Ort des schwersten Minenunglücks weltweit seit 40 Jahren umtreibt. Sein Handeln bestimmt eine fast autistische Furcht, selbst in den Strudel von Verdächtigungen und politischen Schuldzuweisungen zu geraten, den nationale Katastrophen auslösen können. Die Katastrophe von Soma zerrt Erdogan die Maske des weisen Staatenlenkers ein Stück weiter vom Gesicht. Dahinter erscheint das düstere Antlitz eines Autokraten, den nur eines interessiert: die Macht."
Eigentlich verbietet es sich grundsätzlich, eine solch schreckliche Katastrophe wie die in Soma politisch zu instrumentalisieren. Doch das, was Erdogan jetzt in der Türkei entgegenschallt, habe er sich selbst zuzuschreiben, urteilt das Delmenhorster Kreisblatt. "Unterm Strich tun der Ministerpräsident und seine Truppe derzeit nun wirklich alles, um nicht in die EU aufgenommen zu werden."
"Die Strategie Erdogans lautete stets: Ich teile und herrsche. Damit hat er das Land polarisiert und alle Wahlen gewonnen. Dieses Rezept dürfte zumindest nach Soma nicht mehr so gut funktionieren", vermutet die Süddeutsche Zeitung. "Denn die Menschen im Ruhrgebiet der Türkei waren bislang keine Regierungsgegner, viele wählten AKP. Deshalb wirkt das Bild des Erdogan-Beraters Yusuf Yerkel, der auf einen liegenden Protestler eintritt, so fatal. Denn dessen schlichte Botschaft lautet: Euer Schmerz interessiert uns nicht."
Auch Der neue Tag aus Weiden sieht in dem Grubenunglück von Soma einen möglichen Wendepunkt in der türkischen Politik: "Erdogans Auftritt vor den Angehörigen war takt- und respektlos. Und auch das Bild vom Fußtritt seines Beraters Yusuf Yerkel gegen einen Demonstranten symbolisiert das Desinteresse der Herrschenden an ihrem Volk. Die einfachen Arbeiter - wie beispielsweise die Bergleute - waren bisher das Rückgrat der Politik Erdogans. Sie standen immer hinter ihm. Diese Unterstützung könnte der Premier nun verspielt haben."
Die Kommentatoren der Magdeburger Volksstimme beobachten derzeit in der Türkei zudem was passiert, wenn ein anfangs erfolgreicher Regierungschef nicht zur rechten Zeit von der Macht ablässt, sich krampfhaft an sein Amt klammert und sein politisches Vermächtnis so Stück für Stück zerstört. "Wäre Recep Tayyip Erdogan vor mehr als einem Jahr abgetreten, hätte ihn sein Volk immer als jenen verehrt, dem es gelungen ist, die Türkei wirtschaftlich voranzubringen und an die EU zu binden. Doch mit seinem wachsenden Hang zu Gier, Korruption und Vetternwirtschaft hat Erdogan nach und nach sein eigenes Lebenswerk schwer beschädigt. Mehr noch: Er wird zur Gefahr für das eigene Land, handelt er doch zunehmend wie ein Despot. Auf Demonstranten lässt er einprügeln, kritische Medien verstummen, Staatsanwälte versetzen. Nach dem Grubenunglück mit unzähligen Toten hat er seinen Landsleuten nun gezeigt, was er auch noch ist: ein Despot ohne jegliches Mitgefühl."
Zusammengestellt von Louisa Uzuner
Quelle: ntv.de