Präsidenten-Kandidat Joachim Gauck "Gesichtsverlust für Merkel"
20.02.2012, 08:21 UhrDie Koalition und Rot-Grün einigen sich auf Joachim Gauck als neuen Bundespräsidenten. Einerseits bedeutet das Ergebnis für Kanzlerin Merkel eine Machtverlust. Andererseits ist es ein Zeichen von Größe, dass sie über ihren Schatten springt und den früheren DDR-Bürgerrechtler akzeptiert.
Für die Neue Osnabrücker Zeitung steht ein "respektabler Kandidat für das Amt des Präsidenten bereit." Seiner Kür sei ein abschreckendes Schauspiel vorausgegangen, das vorübergehend wie eine Nachfolgersuche für "Wetten, dass..?" wirkte. "Das Ergebnis bedeutet einen Gesichtsverlust für Angela Merkel, die den einstigen Gegenkandidaten zu Christian Wulff verhindern wollte. Dass ihr dies nicht gelang, sollte nicht überbewertet werden. Am Ende stand, gerade noch rechtzeitig, die Einigung", schreibt die Zeitung weiter. Dass die Kanzlerin nachgegeben habe, entspreche ihrem pragmatischen Stil: Ihre Ablehnung hätte niemand verstanden und wäre Keimzelle latenter Unzufriedenheit mit jedem anderen Kandidaten gewesen. "Das Präsidentenamt hat inzwischen auch genug gelitten, nicht nur unter dem Fall Wulff."
Die Frankfurter Rundschau vermutet eine besonders raffinierte Strategie: "Eine, in der die FDP ihr Gesicht nicht verliert. Eine, in der die Union sich selber eine weitere Wende verkaufen kann. Eine, in der ein langes Hin und Her über Kandidaten vermieden wird, das auch diese beschädigen könnte." Es wäre eine bemerkenswerte Leistung, vor allem für die Union. Denn so wie die Präsidenten-Suche der Koalition verlaufen sei, habe sie nicht den Ruhm der Koalition vermehrt. Kanzlerin Angela Merkel stehe nun da als eine, "die sich von ihrem geschrumpften Partner je nach Geschmack an die Leine legen oder zur Raison bringen lässt."
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung sieht in der Nominierung Gaucks für SPD und Grüne einen süßen Triumph, "den die FDP hinterrücks zur Ampel umfunktioniert". Das Blatt wirft die Frage auf: Was bedeutet sie für die Union und für die Zukunft Angela Merkels? Die Union werde sich in dieser Bundesversammlung wie ein Fremdkörper vorkommen. "Sie muss sich damit trösten, dass der Allparteienzug Frau Merkel alle Wege offenhält und zur schwarz-rot-grün-gelben Allparteienkanzlerin macht. So erfolgreich kann Scheitern sein."
Die Augsburger Allgemeine schreibt: "Es war ausgerechnet die FDP, die mit ihrem Vorpreschen für Gauck den Durchbruch geschafft und Merkel zum Einlenken gezwungen hat. Es mag sein, dass Merkel Gauck schon vorher auf der Rechnung hatte. Aber erst der Vorstoß der FDP für den Favoriten von SPD und Grünen mitsamt der Gefahr eines Koalitionsbruchs hat Merkel bewogen, über ihren Schatten zu springen und Gauck zu akzeptieren." Damit gebe sie offiziell zu, 2010 falsch entschieden zu haben. "Das mag peinlich sein und wirkt wie eine Niederlage. Aber es ist doch auch ein Zeichen von Größe, das Merkel nicht zum Nachteil gereichen wird."
Die Badische Neueste Nachrichten aus Karlsruhe attestieren Bundeskanzlerin Merkel einen bemerkenwerten Fall von Korrektur. Der Schwenk zu Joachim Gauck sei der Union aus taktischen Gründen alles andere als leicht gefallen. "Dass sie ihn dennoch vollzogen hat, könnte die seltsame Folge haben, dass diese Kandidatenkür fast nur Sieger hervorbringt: SPD und Grüne, weil sie schon vor zwei Jahren auf Gauck setzten. Die FDP, weil sie gestern hoch und erfolgreich gepokert hat. Und die CDU, die bald merken könnte, dass dieser Präsident viel besser zu ihr passt, als sie je gedacht hat."
Für die Westfälische Nachrichten ist der Fall klar: "Merkel musste in die ungeliebte Personalie Gauck einwilligen, weil sie zum einen ihre Regierung nicht aufs Spiel setzen wollte, zum anderen keine überzeugende personelle Alternative aufzubieten vermochte."
Der Bonner General-Anzeiger kommentiert: "Die Mehrheitsverhältnisse haben die Kanzlerin zur Korrektur gebracht. Mit einem paradoxen Ergebnis: Deutschland bekommt einen Bundespräsidenten, mit dem diese Gesellschaft sehr gut wird leben können." Dass er wie Angela Merkel evangelisch und vom Osten geprägt ist, werde nur für Freunde des Proporzes von Nachteil sein. Und Angela Merkel? Die Krisenkanzlerin sei angeschlagen. Sie müsse sich für 2013 eine neue Koalition suchen. "Was aber auch kein Nachteil ist."
Die Westdeutsche Zeitung kritisiert ein unwürdiges Possenspiel der schwarz-gelben Koalitionäre. "Der Streit um die Personalie Gauck drohte bisweilen sogar zur Zerreißprobe für die Regierung zu werden. Denn im Gegensatz zu CDU und CSU hatte die FDP die Signale aus dem Volk gehört und machte aus der Gauck-Frage eine Koalitionsfrage. Der schwer angeschlagene FDP-Parteichef Philipp Rösler setzte alles auf eine Karte - und gewann." Weil er an Gauck festgehalten habe und gegenüber der Kanzlerin ungewohnte Stärke gezeigt habe, könne er sich nun als Präsidentenmacher fühlen. "Ob sich das jedoch für die Liberalen bei der wichtigen Landtagswahl in Schleswig-Holstein in Stimmen auszahlen wird, ist längst nicht ausgemacht."
Quelle: ntv.de, zusammengestellt von Matthias Bossaller