Gaucks Staatsbesuch in Israel "Keine Gleichgewichtigkeit"
29.05.2012, 21:05 Uhr
Das deutsche Staatsoberhaupt besucht Israel. Die historisch aufgeladene Visite ist die erste große Probe für Joachim Gauck in seinem neuen Amt. Die deutsche Presse ist sich einig: Er hat sie bestanden. Doch die Blätter streiten darüber, ob auch sein Abstecher in die Palästinensergebiete sinnvoll war.
Die Westfälischen Nachrichten glauben, dass Bundespräsident Joachim Gaucks Bemühen um den deutsch-israelischen Zusammenhalt bei seinem Staatsbesuch nicht über das zerrüttete Verhältnis der beiden Länder hinwegtäuschen kann: "So eng Gaucks Schulterschluss mit Israel - die Gesellschaften klaffen zunehmend auseinander." Deutschland beschreibt das Blatt als "postnational, postreligiös, postmilitärisch". In Israel gelte das Gegenteil: "Die Armee, das Thema Religion und ein starker Bezug zur Nation prägen den Alltag". Während in Deutschland die Lehre aus dem Holocaust laute: "Nie wieder Krieg" sei die Lehre in Israel "Nie wieder Opfer". Die Westfälischen Nachrichten halten das hierzulande, "wo wir trotz unserer schwierigen Vergangenheit längst wieder mit allen Nachbarstaaten in Frieden leben dürfen", für schwer zu verstehen.
Wohl auch aus diesem Grund weist die Leipziger Volkszeitung darauf hin, dass 60 Prozent der Deutschen meinen, ihr Land habe gegenüber Israel keine besonderen Verpflichtungen mehr. "Weder Sonntagsreden noch opulente Appelle rufen flächendeckend Sympathie und Solidarität hervor", schreibt die Zeitung. "Das ist wirklich beunruhigend." Doch Gauck hat die Werte der Freiheit, die historische Verantwortung und die immerwährende Pflicht zur besonderen Solidarität beschworen. Davon zeigt sich zumindest die Volkszeitung überzeugt. Das Blatt mahnt aber: "Dabei darf es aber auch ein Bundespräsident nicht belassen." Und das habe Gauck auch nicht. Der Besuchsauftakt in der Gedenkstätte für die Opfer des Holocaust Yad Vashem sei notwendig und beeindruckend gewesen und der Abschluss in den Palästinensischen Gebieten nicht minder wichtig. Verantwortung gegenüber Israel schließt die Interessensvertretung der Palästinenser laut der Zeitung ausdrücklich mit ein.
Ähnlich sehen das die Kieler Nachrichten. "Der Präsident hat vorgemacht, dass sich Solidarität mit Israel und Kritik an der aktuellen israelischen Politik nicht ausschließen, sondern dass sich gerade Freunde ehrlich begegnen können und sollten." Daran habe es in letzter Zeit auch von deutscher Seite gemangelt, kritisiert die Zeitung. "Die Bundesregierung hat die Palästinenserpolitik der Regierung Netanjahu und den israelischen Siedlungsbau auch dort gedeckt, wo ein offenes Wort der Missbilligung angemessen gewesen wäre." Gauck hat laut dem Blatt das Fundament dafür gelegt, dass künftig wieder Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit das deutsch-israelische Verhältnis bestimmen.
Die Märkische Allgemeine ist darüber hinaus sicher, dass Gauck dabei auch den richtigen Ton getroffen hat. "Im Gegensatz zum Gedicht des Großschriftstellers Günter Grass kommt Gaucks Einwand nicht großspurig und selbstgefällig daher, sondern nachdenklich und verantwortungsvoll. Freundschaft heißt nicht zwangsläufig Übereinstimmung in allen Punkten. Aber Verlässlichkeit gehört dazu. Und die hat Gauck demonstriert."
Das Hamburger Abendblatt zeigt sich dagegen skeptisch: Auch diese Zeitung bewertet Gaucks Visite zwar als "glänzend gelungen". Doch ob die erste Israel-Reise des neuen deutschen Staatsoberhauptes gleich auch noch den Palästinensergebieten gelten musste, stellt das Blatt in Frage. "Für die Menschen dort ist das fraglos eine wichtige Geste. Gauck sollte in Jerusalem aber sehr deutlich machen, dass damit für Deutschland keine politische Gleichgewichtigkeit zwischen Jerusalem und Ramallah hergestellt wird."
Quelle: ntv.de, zusammengestellt von Thomas E. Schmidt