Pressestimmen

Straßburger Richter rügen deutsche Praxis "Mit Hysterie kommt man nicht weiter"

Die Sicherungsverwahrung für Schwerverbrecher bleibt in Deutschland trotz der jüngsten Reform juristisch umstritten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilt die Bundesrepublik erneut in vier Fällen und kritisiert einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Weil zahlreiche Fälle weiter umstritten sind und angefochten werden, könnten die Gerichte nun gezwungen sein, weitere Täter freizulassen. In der deutschen Zeitungslandschaft löst das eine Kontroverse aus.

Juristen und Politiker leiten aus den Urteilen Schlüsse für die Neuregelung ab und sehen Teile der jüngsten Reform auf der Kippe.

Juristen und Politiker leiten aus den Urteilen Schlüsse für die Neuregelung ab und sehen Teile der jüngsten Reform auf der Kippe.

(Foto: picture alliance / dpa)

Wenig Verständnis für das Urteil der Straßburger Richter zur Praxis der deutschen Sicherheitsverwahrung haben die Stuttgarter Nachrichten: "Dank Straßburg werden in Deutschland nun wohl 20 weitere Straftäter auf freien Fuß kommen, von denen eine hohe Gefahr ausgeht. Da kann man nur den Kopf schütteln. Der Gerichtshof in Straßburg ist kein Organ der EU. Und doch ist auch er dafür verantwortlich, wie sehr Europa von den Bürgern akzeptiert wird. Wer derart arrogant urteilt, ohne die Folgen seines Tuns auch nur ins Kalkül zu ziehen, der leistet Europa einen Bärendienst".

Die Welt wendet ein: "Man könnte als Bürger nun sehr empört über das Urteil sein. Man könnte denken, den Straßburger Europarichtern seien die Opfer gleichgültig, die die Männer auf dem Gewissen haben - und besonders die möglichen Opfer, die mit der Sicherungsverwahrung beschützt werden sollten. Das wäre aber ein Irrtum". Denn, so das in Berlin herausgegebene Blatt: "Die Straßburger Richter haben nicht über die Taten geurteilt. Sie haben nicht die Opfer verhöhnt. Die Straßburger Europarichter haben, das ist ihre Aufgabe, nur eine einzige Frage bewertet: Darf ein Staat nachträglich seine eigenen Gesetze missachten oder umschreiben, wenn es ihm plötzlich nützlich erscheint? Sie haben das mit Nein beantwortet, und sie haben recht damit. Denn das Recht ist unteilbar, weil es sämtliche Willkür verhindern soll, nicht nur die Willkür auf Feldern, die genehm sind."

Einen ähnlichen Standpunkt vertritt auch die Leipziger Volkszeitung: "Wegschließen und zwar für immer! Die markige Forderung zum Umgang mit Kinderschändern stammt von Gerhard Schröder, und selten sprach der Basta-Kanzler seinem Volk so aus der Seele. Dagegen wirken die (…) Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, der zum wiederholten Male die Bundesrepublik rüffelte, lebensfremd. Doch die Kritik ist im Kern berechtigt: Es genügt nicht, Stammtischparolen in Gesetzestexte umzuwandeln. Wer Täter über die Haftzeit hinaus wegsperren will, bewegt sich auf einem schmalen Grat zwischen dem Schutz der Allgemeinheit und den Menschenrechten, die auch für Verbrecher gelten. Das erfordert gekonntes Balancieren".

"Und was ist mit dem Schutz der Bürger vor diesen gefährlichen Gewalt- und Sexualverbrechern?", fragt der Kölner Stadt-Anzeiger. "Den muss nun die Polizei leisten. Der eine oder andere kann vielleicht auch nach dem neuen Therapie- und Unterbringungsgesetz wieder zwangsweise untergebracht werden - wenn er als gefährlich und psychisch gestört eingeschätzt wird. Der Gerichtshof erinnert aber daran, dass gerade beim vorsorglichen Wegsperren von Menschen die Gesetze, die Verfassung und die Menschenrechts-Konvention streng einzuhalten sind. Im Einzelfall kann dies zu Risiken führen. Aber viel riskanter ist es, in einem Staat zu leben, der solche Regeln gar nicht kennt oder offen missachtet. Vermutlich leben wir alle lieber in Deutschland als in zum Beispiel Weißrussland."

Für die Zeitung Neues Deutschland aus Berlin überrascht der Richterspruch nur jene, "die es nicht besser verstehen wollten. Denn schon im EGMR-Urteil von 2009 zur rückwirkenden Verlängerung der Sicherungsverwahrung war die Position klar: Es muss einen Kausalzusammenhang zwischen Verurteilung und fortdauerndem Freiheitsentzug geben, hieß es schon damals. Dennoch gab es ewiges Gezerre, bis die nachträgliche Anordnung wirklich weitgehend gestrichen wurde. Die gestrigen Urteile führen erneut vor Augen, dass es sich die Deutschen zu leicht machen, wenn es gilt, zwischen dem Schutzbedürfnis der Allgemeinheit und den Rechten von Straftätern einen Ausgleich zu finden. Erneut gibt es 'Altfälle', die freigelassen werden müssen. Die Diskussion sollte diesmal gelassener geführt werden. Mit Hysterie kommt man nicht weiter".

Das Offenburger Tageblatt findet es indes "blamabel", dass es Deutschland bisher nicht gelungen ist, eine auch im europäischen Kontext rechtlich einwandfreie Lösung auf den Weg zu bringen. Denn die sei notwendig, "damit es zu einem Ausgleich zwischen dem Recht der Bestraften auf Freiheit und dem Recht der Bürger auf Sicherheit kommen kann. Die Unfähigkeit der Politik führt jetzt dazu, dass Gewaltverbrecher auf freien Fuß kommen und die Sicherheit der Bürger gefährden".

Quelle: ntv.de, Zusammengestellt von Susanne Niedorf-Schipke

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