Sport

Wolff wütet, Gislason überrascht Das hätte der Bundestrainer wirklich nicht sagen sollen

handball02.jpg

Die deutsche Handball-Nationalmannschaft scheidet bei der WM im Viertelfinale aus, der Traum von der Medaille zerplatzt. Bundestrainer Alfred Gislason sieht dennoch einen Fortschritt. Andreas Wolff würde da wohl widersprechen.

Andreas Wolff tobte, er brüllte und am Ende standen ihm die Tränen in den Augen. Für den deutschen Torwart war in den Sekunden nach einem dramatischen WM-Krimi eine Welt zusammengebrochen. 30:31 hatte die deutsche Handball-Nationalmannschaft völlig unnötig gegen Außenseiter Portugal verloren und damit leichtfertig die Chance auf die erste WM-Medaille seit 18 Jahren einfach weggeworfen. Wolff hatte 21 Bälle gehalten, spektakulär hatte er sich den portugiesischen Schützen entgegengeworfen, er stoppte Bälle nahe der 100 km/h mit dem Brustkorb und fischte Würfe mit dem Bein über dem Kopf aus dem Winkel.

Wolff ist ein Medaillentorwart, an diesem Abend gefangen in einer Mannschaft, die nicht bereit war für einen großen Sieg. Unmittelbar nach dem Schlusspfiff musste man sich sorgen, dass Wolff jemanden einfach auffrisst. Ja, es war die maximale, pure Enttäuschung, die er erlebt hatte. Und dann verkündet Bundestrainer Alfred Gislason, dass dieses Turnier mit dem zu frühen WM-Aus "kein Rückschlag" gewesen sei. Im Gegenteil: "Dieses Turnier war ein Schritt nach vorn." Selten dürften Gefühl und Analyse weiter auseinandergeklafft haben, als in diesem Moment. Nicht nur in der Welt von Andreas Wolff.

"Müssen einiges aufarbeiten"

"Natürlich ist es ein Rückschlag, heute so gegen Portugal im Viertelfinale auszuscheiden", zürnte Handball-Idol Stefan Kretzschmar im Podcast "Harzblut". "Das kann man doch sagen." Luca Witzke, der den geschwächten Juri Knorr hätte entlasten sollen, das aber auf höchstem Niveau nicht schaffte, fand, "dass wir keinen Schritt nach vorne gemacht haben." Die deutsche Mannschaft, die vor fünf Monaten noch mit Begeisterung, Tempo und viel Überzeugung sensationell zur olympischen Silbermedaille gestürmt war, kam im gesamten Turnier nie in die Nähe der Form aus den rauschhaften olympischen Tagen von Paris und Lille. Allzu oft manövrierte sie sich in komplizierte Situationen, aus denen sich das Team aber wieder herauswand. Das wurde - auch von ntv.de - zur neuen Stärke umgedeutet: Die Resilienz, den Systemabsturz zu vermeiden. Die Qualität, die Leichtigkeit, so hoffte man, werde auf dem Weg durchs Turnier schon kommen. Schließlich hat die Mannschaft schon bewiesen, dass sie Außergewöhnliches zu leisten imstande ist.

Jetzt ist die WM für Deutschland beendet, ohne dass man im gesamten Turnier ein richtig gutes Spiel gezeigt hätte. Immer haperte es an irgendetwas: Der Start war meistens katastrophal, mal passte die Abwehr nicht, mal der Angriff. Das Aus im Viertelfinale gegen das Überraschungs-Team aus Portugal ist eine gewaltige Enttäuschung. Christoph Steinert sagte, man sei "normalerweise stärker als das". Das Viertelfinale der WM, das Spiel, bevor es um die Medaillen geht, wäre eine gute Gelegenheit gewesen, das auch zu zeigen.

"Wir müssen einiges aufarbeiten. Ich habe meine Gedanken dazu, warum es nicht gereicht hat. Aber die werde ich öffentlich nicht teilen", deutete Torwart-Gigant Andreas Wolff an, dass es doch einiges zu besprechen gibt. Wenn ein Torhüter in einem Spiel über 20 Bälle hält, kann man es eigentlich nicht verlieren. Es muss sich für Wolff angefühlt haben, als hätten seine Vorderleute, die nur in einzelnen Phasen des K.-o.-Spiels wirklich mit Verve und Mut im Angriff spielten, die Medaille gestohlen. Oder wenigstens die Chance darauf. "Ich bin frustriert und verärgert, aber ich gebe ihnen nicht die Schuld. Es tut weh, so auszuscheiden. Ich werde jetzt aber nicht über mein Team herziehen", sagte er diplomatisch, aber doch bestimmt.

"Nie ans Optimum herangekommen"

Der Bundestrainer denkt in seiner Bewertung nicht in Platzierungen. Das ist sein gutes Recht, sogar seine Pflicht. Auch wenn es doch um vorweisbare Erfolge geht, gerade in Sachen der wertvollen Aufmerksamkeit für seine Sportart. Es war aber eben auch die Art und Weise, wie sich seine Mannschaft zu oft präsentierte, die Gislasons These schwierig nachvollziehbar macht. Zu oft fehlten im Angriff Tempo und Ideen. Das beste Beispiel dafür brachte Deutschland um den möglichen Sieg: 20 Sekunden vor Schluss der regulären Spielzeit hatte die deutsche Mannschaft nach eigener Auszeit den Ball - und brachte keinen Wurf aufs Tor mehr zustande. "Das war total ärgerlich", sagte Linksaußen Rune Dahmke. Und: "Wir sind über das gesamte Turnier nie an unser Optimum herangekommen."

Im modernen Handball ist es nur schwer zu vermitteln, dass aus 21 Torhüterparaden nur ein, wohlwollend zwei Tore aus dem unmittelbaren oder erweiterten Tempogegenstoß entstehen. Oft kam es vor, dass Wolff nach einer spektakulären Parade erst sekundenlang nach einem Abnehmer für den Ball suchen musste. Sekunden, in denen die Turbo-Dänen und andere Mannschaften schon das komplette Feld überquert hätten. Den schnellen Pass in die Tiefe, als die Rückwärtsbewegung der ermatteten Portugiesen zwischenzeitlich beinahe zum Erliegen gekommen war, scheuten sie alle: Julian Köster, Renars Uscins, sogar Hochpräzisionsarbeiter Juri Knorr. Linksaußen Lukas Mertens warf während des gesamten Spiels überhaupt nur einmal aufs Tor - in der 70. Minute.

Natürlich hatte die deutsche Mannschaft Verletzungspech: Der Ausfall von Franz Semper, der in seinen 20 Turnierminuten gegen Italien fünf Tore erzielt hatte und dann wieder abreisen musste, schlug ein Leck in den deutschen Kader. Die Last im rechten Rückraum lag fortan wieder komplett auf den Schultern von Renars Uscins, der gegen Portugal eine ganze Reihe schlechter Entscheidungen traf und eine desaströse Quote - vier Treffer bei zwölf Versuchen - ansammelte. Gleichwohl ist es dem 23-Jährigen, der bei Olympia noch die deutsche Mannschaft mit fantastischen Leistungen zur Silbermedaille geschossen hatte, natürlich zuzugestehen, nicht ein überragendes Turnier ans nächste reihen zu können. Spielmacher Juri Knorr, Gislasons wichtigster Feldspieler, fehlte mitten im Turnier eine Woche krankheitsbedingt, gegen Portugal war der 24-jährige Weltklassespieler noch nicht wieder im Vollbesitz seiner Kräfte.

Gislason wird das Turnier mit seinem Stab analysieren und daraus Schlüsse ziehen. Es ehrt den Bundestrainer, dass er sich vor seine enttäuschte Mannschaft stellt und die herbe Enttäuschung in einen Fortschritt umwidmen will.

"Für schweren Monat bedankt"

Doch als Mannschaft bei einer WM "nie ans Optimum heranzukommen", wie Rune Dahmke sagte oder "normalerweise stärker als das zu sein", wie sich Christoph Steinert wunderte, sind dann doch starke Indizien für einen Rückschritt. "Ich habe mich bei unserer gestrigen Sitzung bei der Mannschaft für diesen schweren Monat bedankt", sagte Gislason am Morgen nach der Enttäuschung. "Ich fand, dass sie mit den Problemen, die wir hatten, überragend umgegangen ist. Sie ist als Mannschaft gewachsen." Der Rückschritt ist wohl nicht strukturell, für den Moment aber steht er in den Büchern.

Mehr zum Thema

Gislasons schwedischer Amtskollege Michael Apelgren hatte nach dem Hauptrundenaus drastisch formuliert: "Wir werden nach Hause fahren und uns schämen." So schlimm lief es für die deutsche Mannschaft wahrlich nicht, doch es war auch die Auslosung, die es mit dem DHB-Team deutlich gnädiger meinte: Mit Italien und Tunesien standen in der deutschen Hauptrundengruppe I zwei Teams, die von höchsten internationalen Ansprüchen weit entfernt sind. Die Schweden mussten sich mit Spanien, Norwegen und eben den Portugiesen auseinandersetzen. Man hätte sich von der sportlichen Führung in Deutschland wohl doch einen kritischeren Blick auf das Turnier gewünscht.

Noch am Abend hatte der Bundestrainer einen wichtigen Satz gesagt: "Letztendlich waren wir komplett selbst daran schuld, dass wir gegen Portugal so zurücklagen zur Halbzeit. Das ging allein auf unser Konto." Und eben hier ist der Rückschritt greifbar: Bei Olympia noch hatten die DHB-Männer noch Handball-Großmächte wie Spanien und Frankreich niedergerungen. Als es in Paris darauf ankam, brachte die deutsche Mannschaft ihre ganze zweifellos vorhandene Qualität auf die Platte. Das gelang diesmal nie. Es ist ein Rückschlag.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen