Das Monster als zahnloses Zebra Der THW Kiel sucht sein Sieger-Gen
02.10.2017, 13:55 Uhr
Im Zentrum der Krise: Alfred Gislason.
(Foto: dpa)
Jahrelang fressen sich die Handballer des THW Kiel wie Monster durch die Bundesliga. Doch von der einstigen Übermacht ist nichts mehr übrig. Der Trainer taumelt wie ein angeschlagener Boxer - die Gegner schonen sich und lächeln.
Alexander Petersson musste schmunzeln. "Wir haben etwas Kräfte gespart", sagte der Rückraumspieler der Rhein-Neckar Löwen nach einem Spiel, in dem seine Mannschaft in den letzten Minuten in der Gewissheit des klaren Sieges das Tempo gedrosselt hatte. Angesichts der Terminhatz der Top-Mannschaften der Handball-Bundesliga ist es durchaus üblich, jede Chance zur Schonung zu nutzen. Neu ist jedoch, dass dies bei Siegen gegen den THW Kiel angewendet werden kann. Jahrelang fegten die Kieler wie ein gefräßiges Monster durch die Liga. Die Zebras wirkten unbesiegbar - doch das ist schon eine Zeit lang her. Beim 28:30 bei den Löwen kassierte der THW am Sonntag die vierte Niederlage im siebten Ligaspiel und befindet sich in der größten Krise der jüngeren Vergangenheit.
Zwischen 2004 und 2015 war der Gewinn der Meisterschaft für den THW Kiel ein Handball-Gesetz, nur 2011 durchbrach der HSV Hamburg die Serie des Rekordmeisters. Die Übermacht drohte die Liga zu erdrücken, die Überlegenheit wurde mit dem Sieger-Gen der Kieler erklärt. Der Klub mit dem höchsten Budget wurde den höchsten Ansprüchen gerecht, doch davon ist aktuell nicht mehr viel übrig. In der Tabelle steht der Klub auf Platz zehn. Nur über das höchste Budget in Deutschland verfügt der THW weiterhin.
Alfred Gislason steht im Zentrum der Krise und wirkt zunehmend ratlos. Der Isländer ist seit 2008 in Kiel und der erfolgreichste Trainer der Vereinsgeschichte. Gislason gewann zwei Mal mit dem THW die Champions League, in der Saison 2011/12 marschierte er mit seinem Team ohne Verlustpunkt durch die Liga, der Coach stellte in Kiel Bestmarken für die Ewigkeit auf - aber in der Gegenwart taumelt der Isländer wie ein angeschlagener Boxer nach jeder weiteren Niederlage ein bisschen bedrohlicher. "Wir haben verdient verloren", sagte Gislason nach dem Spiel beim Meister, und: "Im Moment sind wir nicht stark genug."
"Alfred will und muss Titel gewinnen"
Die Kieler, und das sagt viel über ihre Situation aus, wirkten erleichtert, dass die Schmach bei den Löwen erträglich geblieben war. Beim Dominator der Vergangenheit werden knappe Niederlagen inzwischen als Fortschritt gewertet. Bei der HSG Wetzlar hatte der THW zehn Tage zuvor eine 22:30-Klatsche kassiert, sodass sich das 28:30 in Mannheim besser anfühlen durfte als die 60 Minuten auf dem Feld. Dort war der THW viel deutlicher unterlegen. "Es muss irgendwas geändert werden", forderte Nationalspieler Patrick Wiencek nach den 60 Minuten, die desillusionierend wirkten. Enttäuschend war die Bilanz der zwei zurückliegenden Jahre bereits, in der Gegenwart wirkt alles noch schlimmer.
Zwei Mal hatte es für die Kieler zuletzt in der Liga nur noch zum dritten Platz gereicht. Vor dem Start in dieses Spieljahr erklärte Manager Thorsten Storm den Umbruch für "weitgehend abgeschlossen". Das Ziel sei ganz klar, die Vorherrschaft im deutschen Handball zurückzuerobern. "Alfred will und muss Titel gewinnen", lautete die eindringliche Forderung von Storm, dem seit längerer Zeit ein angespanntes Verhältnis zum Trainer nachgesagt wird. Sechs Wochen nach dem Saisonstart gleicht die Analyse von Storm einer Bankrotterklärung. "Im Moment haben wir nicht die Qualität, um die Ziele zu erreichen, die wir uns alle gesteckt haben", sagt der Manager.
Storm versuchte, die Diskussion um Gislason nicht zu groß werden zu lassen. Der Trainer stehe aktuell "nicht zur Disposition" erklärte der Manager. Den Hinweis, dass "am Ende die Ergebnisse auf dem Platz zählen", ließ er folgen. Und die Eindrücke auf dem Feld machen wenig Hoffnung auf Besserung. Dem THW fehlt mit Domagoj Duvnjak ein herausragender Spieler seit Monaten wegen Verletzung, der Kroate gehört zu den besten Handballern der Gegenwart, weil er in der Lage ist, die Spieler um sich herum besser zu machen.
Die Abwesenheit von Duvnjak ist ein Grund für die Krise, aber es greift zu kurz, sie alleine daran festzumachen. Die Qualität der Einzelspieler ist auch ohne ihn sehr hoch, wenngleich sie nicht auf dem Feld ersichtlich wird. Von der Bank bleiben Impulse aus
Längst wird im kritischen Umfeld des Klubs nicht mehr darüber spekuliert, ob die Krise personelle Veränderungen erfordert, sondern nur noch, ob Gislason oder Storm gehen muss. Der Aufsichtsrat der Kieler stärkte in der vergangenen Woche demonstrativ dem Trainer den Rücken, doch mit jeder Niederlage nimmt der Druck zu. Gislason wirkt amtsmüde, nach dem Spiel bei den Löwen stellte er klar, dass für ihn im Sommer 2019 beim THW Schluss ist. Unklar ist, ob der Isländer die Entscheidungsgewalt über sein Ende in Kiel behält.
Quelle: ntv.de