Ein Purdy ist (noch) kein Brady Der völlig Unterschätzte mit den kleinen Händen
29.01.2023, 11:01 Uhr
Mitte Dezember besiegte Purdy (rechts) den großen Tom Brady.
(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
Innerhalb weniger Monate steigt Brock Purdy vom Nobody zum Star auf. Der Quarterback der San Francisco 49ers bricht Rekorde und rettet eine beinahe schon verloren geglaubte Saison - dabei wird er lange von allen abgeschrieben. Doch der Weg des 23-Jährigen zum Superstar ist noch weit.
Der Moment, der das Leben von Brock Purdy für immer verändern soll, scheint für die San Francisco 49ers im ersten Moment nicht weniger als eine Katastrophe zu sein: Anfang Dezember gegen die Miami Dolphins bricht sich Quarterback Jimmy Garoppolo nach nicht einmal fünf Spielminuten den rechten Fuß, fällt monatelang aus. Für die 49ers ist Garoppolos Ausfall eine absolute Hiobsbotschaft. Der hatte zu Beginn der Saison selbst von dem eigentlich erhofften Heilsbringer Trey Lance übernehmen müssen, nachdem dieser sich das Bein gebrochen hatte.
San Franciscos neuer Starter wird Brock Purdy. Ein Liganeuling mit einem imposant klingenden Namen zwar, der im Draft vor Beginn der Saison aber an letzter Stelle ausgewählt worden war. Mr. Irrelevant. Seine für Quarterbacks durchschnittliche Körpergröße (1,85 Meter) und seine verhältnismäßig kleinen Hände werden ihm beim Draft als Schwäche ausgelegt. Purdy sei "kein sehr guter Athlet", heißt es damals, er habe Defizite sowohl "bei der Kraft als auch beim Wurfrepertoire".
Im Trainingscamp der 49ers fungiert er als Backup des Backups des Backups hinter Lance, Garoppolo und Nate Sudfeld. Im Scouting-Report steht jedoch auch, dass Purdy, der vier Jahre lang Starter am College war, sehr reif und erfahren wirkt. Und so nimmt der 23-Jährige doch signifikanten Einfluss auf den Erfolg seines Teams, statt Herr Unbedeutsam zu bleiben. Und der ganz große Erfolg am Ende der Saison, der Super Bowl, an dem zum Zeitpunkt von Garoppolos Verletzung nur noch die größten Optimisten im Fanlager der 49ers glaubten, ist wieder realistisch.
Purdy lässt Skeptiker verstummen
Natürlich landen in der NFL, die nichts so sehr liebt wie eine gute Hollywood-Story, die Gedanken bei einem Quarterback, der spät gedraftet wird, einen verletzten Kollegen vertritt und seine Mannschaft zum Erfolg führt unweigerlich bei Tom Brady. 2000 an 199. Stelle in der sechsten von sieben Draft-Runden von den New England Patriots gezogen, führte der damalige Neuling sein Team bereits in seiner zweiten Saison zur Meisterschaft. In seiner ersten Spielzeit durfte Brady zwar nur in einem einzigen Spiel für wenige Minuten ran, doch dann verletzte sich Quarterback Drew Bledsoe im zweiten Saisonspiel 2001, der spätere Megastar übernahm.
Nachdem die Patriots mit zwei Pleiten in das Jahr gestartet waren, feierte Brady in seinem ersten Spiel als Starter gleich einen Sieg - ausgerechnet gegen die Indianapolis Colts mit einem der besten Quarterbacks der NFL-Geschichte, Peyton Manning. Passenderweise zerlegt Purdy nur eine Woche nach Garoppolos schwerer Verletzung Bradys Tampa Bay Buccaneers mit 35:7. Der Rookie-Quarterback bringt er dabei mehr als 76 Prozent seiner Pässe zu seinen Mitspielern - ein hervorragender Wert.
Weiter Vergleiche hinken. Doch was Purdy in den verbleibenden Saisonspielen (fünf Siege) zeigt, ist beeindruckend. Der 23-Jährige wirft in jeder Partie mindestens zwei Touchdown-Pässe, er bringt stets mindestens 60 Prozent seiner Bälle zum Mitspieler, wirft nie mehr als eine Interception. In vier der fünf Spiele erzielt San Francisco 37 Punkte oder mehr. "Es fühlt sich da draußen an wie eine Party, ehrlich", beschreibt Tight End George Kittle die Stimmung auf dem Feld. Alles ist möglich, so plötzlich das Motto von Kittle und seinen Teamkollegen. "Wenn die Stimmung gut ist, dann ist dieses Team nicht zu stoppen."
"Das macht er wirklich unglaublich"
Selbst in den Playoffs, in denen Defenses traditionell besser und die Bedingungen für Quarterbacks härter werden, kommt der Purdy-Hypetrain nicht zum Stehen: In der Wild-Card-Runde gegen die Seattle Seahawks spielt der Rookie sogar sein statistisch bislang bestes Spiel überhaupt. Im Playoff-Viertelfinale gegen die Dallas Cowboys hat er dann seine liebe Mühe und springt aufgrund des hohen Drucks der Cowboys oft zu früh aus der ihn beschützenden Pocket. Er verpasst mal mit seinem etwas zu überhasteten und mal etwas zu zögerlichem Spiel mehrere Möglichkeiten für große Spielzüge. Doch der Quarterback lässt sich am Ende nicht aus der Ruhe bringen, vermeidet gravierende Fehler und tut genug, um seinen achten Sieg im achten Spiel einzufahren.
"Das macht er wirklich unglaublich", lobt Coach Kyle Shanahan seinen Schützling nach dem Spiel ausdrücklich. "So gut auf den Ball aufzupassen, wie er es tut und trotzdem noch so viele Plays zu machen, das ist definitiv das gewesen, das mich am meisten beeindruckt hat." Ganz unbeteiligt ist Shanahan am Erfolg seines jungen Quarterbacks allerdings auch nicht - im Gegenteil: Purdy profitiert in seinem Spiel selbst enorm von den herausragenden Spielzügen seines Coaches.
Schon seit Jahren ist Shanahan einer der besten Play-Caller und Play-Designer der Liga. Über die letzten drei Saisons spielten einzig die Superstar-Quarterbacks Patrick Mahomes, Josh Allen und Aaron Rodgers statistisch noch effektiver als Garoppolo - ohne dass dieser jemals auch nur annähernd über ähnliche Elite-Fähigkeiten verfügt hätte wie das Trio. Shanahan macht's möglich. Das Erfolgsgeheimnis des Masterminds: Pässe über die Mitte des Feldes. Seit jeher ist diese Art von Pässen die einfachste und angenehmste für einen Quarterback.
Coach Shanahan hat dieses Quarterback-freundliche System geschaffen, doch das schmälert nicht unbedingt die Leistungen von Purdy. "Man kann so Quarterback-freundlich sein, wie man will", sagt NFL-Analyst Michael Irvin in einem Radio-Interview auf „95.7 The Game“ über den Rookie. "Wir können ihm nicht die Anerkennung stehlen und das, was er getan hat."
Purdys Ruhe, unterstützende O-Line
Purdy bleibt für sein junges Alter und seine geringe Erfahrung meist bemerkenswert ruhig unter Druck; sein 88,1 Rating unter Druck ist das viertbeste in der NFL. Er ist nicht besonders schnell, wenn es darum geht, den Ball loszuwerden, aber er ist stark bei Play-Action und bemerkenswert effizient, wenn es darum geht, Receiver zwischen 10 und 19 Yards Downfield zu finden.
Aber natürlich hat Purdy im starken Team der 49ers viele stützende Säulen um sich herum. Shanahan bewegt Receiver vor und während der Spielzüge so über das Feld, dass dadurch besonders angenehme Passfenster geöffnet werden. Zudem verpflichtete San Francisco vor einigen Monaten Christian McCaffrey von den Carolina Panthers. Der ist der vielleicht beste Passempfänger unter den Running Backs in der Liga und konnte die Pass-Offense der Niners noch flexibler machen. Der jeweilige Gegner muss durch ihn das Laufspiel der 49ers nun noch ernster nehmen und kann die Würfe durch die Mitte nicht mehr so gut abdecken.
Meisterschaften werden im American Football dank der herausragenden Position des Quarterbacks meist in der Offensive entschieden. Dazu gehört auch die Offensive Line. Die 49ers haben dies bei ihren letzten beiden Playoff-Niederlagen auf die harte Tour gelernt. Starke Defensiven durchbrachen die fragile O-Line in den Saisons 2019 und 2021 in der heißen Phase. Dieses Jahr kommen die Mannschaft mit einer stark verbesserten Offensivlinie um die Ecke. "Sie ist so viel besser geworden", sagt Kittle über die 49ers-Line. "Eine Sache, mit der wir das ganze Jahr über gesegnet waren, ist eine gesunde O-Line." Ein großer Vorteil für Purdy, der nun mehr Zeit hat, um seine Spielzüge umzusetzen. Zusätzlich hat der Rookie die beste Defensive der Liga, die in der regulären Saison nur 3,4 Yards pro Laufspielzug zuließ.
Noch lange kein Brady
Auch Brady hatte bei seinem Durchbruch gehörig Hilfe. Die war damals bitter nötig, denn der Neuling warf in seiner ersten Saison zwölf Interceptions bei 18 Touchdowns. Zwar gelangen Brady zwei Game-Winning-Drives in den Playoffs, doch am Ende waren es in der Saison 2001/02 eine überaus starke Defensive, Running Back Antowain Smith (erlief in der Regular Season 1100 Yards) und der stets sichere Kicker Adam Vinatieri, die den Sieg im Super Bowl perfekt machten.
Purdy ist sich seiner Vorzüge durchaus bewusst: "Kyle entwirft einen tollen Game-Plan, ich lese einfach das Feld, werfe den Ball kurz zu Deebo (Samuel; d. Red) und Christian und sie lassen dann Verteidiger aussteigen", sagt er. "Für mich ist das super. Ich muss den Ball nur verteilen und sie sorgen dann für die Yards und den ganzen Kram. Es macht Spaß, da zuzugucken."
Ob er irgendwann ein neuer Brady wird oder nicht, von den in den Playoffs verbliebenen vier Quarterbacks ist er zunächst der schwächste: Es gibt einige Bereiche, in denen sich Purdy noch verbessern muss, wenn die 49ers am Abend (21 Uhr/Pro7 und DAZN) zunächst einmal gegen die Philadelphia Eagles erfolgreich sein wollen, das in dieser Saison auf beiden Seiten des Balls äußerst dominant auftritt. San Francisco steht vor der bisher schwierigsten Aufgabe, wenn es Philadelphias hochoktanigen Angriff bremsen will - angeführt von MVP-Kandidat Quarterback Jalen Hurts, seinen gefährlichen Läufen, enormen Playmaking-Fähigkeiten (22 Touchdowns und nur acht Interceptions in der Regular Season) und der vielleicht besten Offensive Line des Spiels um All-Pro-Center Jason Kelce.
Dann irgendwann vielleicht, sollte Brock Purdy dieses Jahr den Super Bowl tatsächlich gewinnen und auch in den nächsten Jahren seine Teams zu Erfolgen führen, und nur dann, darf der 23-Jährige wieder mit dem großen Tom Brady verglichen werden. Bis dahin gehören nur dem 22 Jahre älteren Quarterback, der wohl noch ein Jahr länger Bälle in der NFL verteilen wird, die Geschichtsbücher. Darin befindet sich Purdy bisher nur als der Mr. Irrelevant, der den ersten Touchdown der Ligageschichte warf. Trotz angeblich zu kleiner Hände und schwachem Arm. Mit einem Sieg über die Eagles könnte er immerhin ein erstes kleines Meilenstein-Kapitel schreiben: Noch nie in der Ligageschichte konnte ein Quarterback in seinem allerersten Jahr in der NFL in den Super Bowl einziehen.
Quelle: ntv.de